Dachdecker arbeitet bei minus 41 Grad – in Kanada
12. November 2019
Ihren Urlaub in Kanada zur Eishockey-WM hatten der Dachdeckermeister Dirk Homburg und seine Frau Heike aus der Nähe von Kassel als große Fans dieser Sportart schon gebucht. Um noch mehr Infos über Kanada zu bekommen, fuhren sie zu einer Messe nach Essen, wo sie zufällig kanadische Dachdecker trafen. Unter Kollegen kam man ins Gespräch und Homburg erhielt er gleich mehrere Jobangebote für Kanada. „Besucht mich doch einfach mal auf einen Kaffee“, so lautete eine Einladung. „Sind ja nur dreieinhalb Autostunden von Eurem Urlaubsdomizil Jasper bis zu meinem Betrieb.“ Aus dem Treffen zum Kaffee in Kanada wurden für den damaligen Bauder-Mitarbeiter Dirk Homburg Zukunftspläne. „Lass‘ und doch einfach mal für zwei Jahre in Kanada arbeiten, bevor wir mit 60 bereuen, es nicht getan zu haben“, lautete der Entschluss. Das Reihenhaus bei Kassel wurde vermietet, die Arbeitserlaubnis für Kanada beantragt.
Dachdecker startet den ersten Job in Edmonton
Am 15. Dezember 2008 begrüßte ein strahlend blauer kanadischer Himmel über Edmonton in der Provinz Alberta die beiden Auswanderer – bei einer Tageshöchsttemperatur von minus 30 Grad. Mit einer Work Permit – einer ersten Arbeitserlaubnis, die nur für den genannten Arbeitgeber gilt – war am 29. Dezember 2008 der erste Arbeitstag für Dirk Homburg als Dachdecker in Kanada. Bis Mai 2012 sorgte Homburg mit deutscher Gründlichkeit für dichte Dächer in Kanada. Dann erhielten er und seine Frau Heike die Permanent Residence, die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für Kanada.
Dachdecker wird Anwendungstechniker im Bedachungsfachhandel
Es folgte ein 18-monatiges „Gastspiel“ bei einem Vertrieb für Sicherheitsequipment. Dann bewarb sich Dachdeckermeister Homburg bei Roofmart, einem mit den deutschen Dachdecker-Einkaufsgenossenschaften vergleichbaren Bedachungsfachhandel. Roofmart ist ein inhabergeführtes Unternehmen. Es gehört der gleichen Unternehmerfamilie wie IKO Commercial, ein führender Hersteller von Flachdachprodukten wie Schweißbahnen und Wärmedämmung. Homburgs Bewerbung wurde „in der Familie“ weitergereicht und so zum Anwendungstechniker bei IKO Kanada. Das von ihm betreute Gebiet reicht von Alberta über Saskatchewan bis zu den Northwest Territories. Das entspricht etwa der siebenfachen Fläche Deutschlands.
In Kanada werden deutsche Tugenden weniger gelebt
Wie aber ist das nun eigentlich, als Normen-geschulter deutscher Dachdeckermeister auf dem Dach über dem großen Teich zu arbeiten? „Die deutschen Tugenden Genauigkeit und Pünktlichkeit werden hier zwar durchaus bewundert und respektiert – aber weniger gelebt“, so Dirk Homburg. „Zu Beginn meiner Arbeit hier gab es für mich keine Gehaltserhöhung, weil ich einfach zu genau gearbeitet habe“, so Homburg lachend. „Und wenn du hier für nächste Woche Dienstag um 10 Uhr einen Termin vereinbarst, kann es sein, dass dein Geschäftspartner ihn einfach vergisst.“
Übel nimmt man sich das nicht. Ebenso wird es geschätzt, offen und ehrlich zu sagen, was und wie man denkt. Regelmäßig schreibt Dirk Homburg auch Reports über seine Arbeit bei IKO an seinen Arbeitgeber. Und die werden von den Inhabern persönlich gelesen und bei Bedarf persönlich Rückfragen gestellt. „Familiengeführt hat hier eben noch die Bedeutung im wahrsten Sinne des Wortes“, so Homburg anerkennend.
Dachdecker ist auch in Kanada ein Ausbildungsberuf
„Auch in Kanada dauert die Dachdecker-Ausbildung drei Jahre, davon finden etwa sechs Wochen handwerkliche Ausbildung an einer Schule statt. Das klingt zwar ähnlich der deutschen überbetrieblichen Ausbildung. Aber es gibt hier keine Berufsschule, die regelmäßig besucht wird“, berichtet Homburg. Allerdings wird die Ausbildung in einer kanadischen Provinz nicht unbedingt in der Nachbarprovinz anerkannt. Und auch wenn es in Kanada berufsständische Organisationen im Dachdeckerhandwerk gibt: „Kein Vergleich mit den deutschen Innungen – hier in Kanada sind die Hürden zur Aufnahme zum Teil extrem hoch. Da kann nicht jeder Mitglied werden.“
Viele Dachdecker haben einen Bewährungshelfer
„Probation Officer war mit die ersten Worte, die ich hier als Dachdecker gelernt habe.“ Das heißt nichts anderes als Bewährungshelfer, erklärt Homburg. „Den haben hier viele, die auf dem Dach arbeiten.“ Unterschieden wird in Kanada übrigens nach Residence Roofer, also dem Dachdecker für Wohngebäude, und nach Commercial Roofer, dem Dach-Fachmann für Gewerbebauten. Dachziegel oder Pfannen sind in Kanada selten zu finden. Die wenigen Schieferdächer sind echte Raritäten. Haupteindeckungsmaterial sind Bitumenschindeln. Und auch der Asphaltkocher an der Baustelle ist in Kanada keine Ausnahmeerscheinung. Mit dem Mob wird der heiße Asphalt aufs Dach aufgebracht.
Dachdecker-Gesellen verdienen bis 40 Dollar pro Stunde
30 bis 40 kanadische Dollar pro Stunde sind drin für einen Dachdeckergesellen. Dafür wird aber auch bis zur Temperaturgrenze von minus 25 Grad gearbeitet. „Hat mir am Anfang keiner gesagt. Die haben sich nur gewundert, dass ich auch noch bei minus 41Grad auf dem Dach war“, erinnert sich Homburg an seinen persönlichen Kälterekord. Sonntags feiern und montags Blaumachen gibt es in Kanada nicht. Die Lohnfortzahlung von 2/3 des letzten Einkommens greift erst nach einer Woche. „Und wenn es mal in der Woche weniger zu tun gab, arbeitest Du das am Samstag und Sonntag nach – ist ganz normal hier.
Diese Art der sozialen Absicherung führt natürlich auch zu einer viel niedrigeren Belastung der Sozialsysteme jenseits des großen Teichs. „Die Grund-Krankenversicherung wird hier bei uns von der Provinz Alberta bezahlt – ohne jegliche Kostenbeteiligung für Arbeitgeber oder Arbeitnehmer“. Zusätzlich ist er privat versichert – zusammen für sich und seine Frau Heike für nur 40 Dollar monatlich. Die Steuern in der ölreichen Provinz Alberta sind mehr als überschaubar. „Nur 25 bis 30 Prozent Abzüge hast Du hier von Deinem Bruttoeinkommen.“
Dachdecker fühlt sich wohl in seiner neuen Heimat Kanada
Aus den geplanten zwei Jahren in Kanada sind mittlerweile elf Jahre geworden. Gibt es sowas wie Heimweh nach Deutschland? „Nein, wir sind Kanadier und haben auch nur noch den kanadischen Pass“, so die spontane Antwort des 50-Jährigen. Zudem haben die Homburgs inzwischen echte Probleme mit der deutschen Mentalität: „Als wir zum ersten Mal nach unserem Umzug wieder Deutschland besucht haben, kamen uns die Menschen so ernst und humorlos vor“, so ein nachdenklicher Dirk Homburg. „Joggen, Fitness, Eishockey-Spiele besuchen, die Dauerkarte des FC Edmonton Fußballclubs nutzen oder Ausflüge in die Rocky Mountains machen – da sind wir inzwischen echte Kanadier geworden“. Und damit ist klar, wo die Homburgs ihr Leben auch künftig verbringen werden. Irgendwie schon verständlich.
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