
Initiation ins Leben: Der französische Zimmerer Gaétan Raffi
11. Februar 2025
Der französische Zimmerer Gaétan Raffi (25), ist nach deutschen Standards ein Meister seines Faches. Knapp zehn Jahre Berufserfahrung – Lehre, Gesellenjahre, berufsbegleitende Weiterbildungen und Erfahrung als Ausbilder – hat der „Compagnon“ gesammelt. Dennoch klingt für ihn das Wort „Meister“ anmaßend. Das hat mit seinen Lehr- und Wanderjahren unter dem Dach des gemeinnützigen Handwerkervereins Association ouvrière des Compagnons Du Devoir et du Tour de France zu tun. Denn zentrale, in der Ausbildung vermittelte Tugenden sind: Demut und Streben nach ständiger Entwicklung, beruflich und charakterlich.

Compagnonnage – UNESCO Weltkulturerbe
Vor rund zehn Jahren noch war Gaétan Raffi einer jener Jugendlichen, die heilfroh sind, die Schule zu verlassen. „Ich war turbulent, nicht sehr schulfähig und hatte Schwierigkeiten mit Autoritäten“, erinnert er sich. Dann erfuhr er von der „Compagnonnage“, dem traditionellen französischen Aus- und Weiterbildungssystem im Handwerk, das seit 2010 von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt ist. „Man erzählte mir von den Werten der Compagnons: ‚Fähig, würdig, frei und freigiebig‘. Da habe ich gesagt: Ok, das werde ich machen.“
Ein leidenschaftlicher Zimmerer und Ausbilder
Für das Zimmererhandwerk entschied er sich zunächst nur, weil er draußen und im Team arbeiten wollte. Heute ist er leidenschaftlicher Zimmerer und begleitet als Ausbilder Jugendliche mit Schulschwierigkeiten auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Seine eigene Transformation vom „turbulenten“ 15-Jährigen zum „Compagnon“ beschreibt er so: „Heute habe ich das Gefühl, jeder Herausforderung in meinem Leben gewachsen zu sein, beruflich wie privat.“

Der gemeinnützige französische Verein der „Weggefährten der Pflicht und der Reise durch Frankreich“, bietet Ausbildungen in über 30 Handwerksberufen an und hat in Deutschland seit einigen Jahren einen selbständigen Ableger: Les Compagnons du Devoir Deutschland e.V.. Bei den Compagnons lernen Auszubildende vornehmlich in einem Betrieb und zwischendurch zwei bis drei Wochen in einem Bildungszentrum. Das ist anders als in den staatlichen Berufsschulen Frankreichs und ähnelt mehr dem deutschen dualen System.
Adoptiert von einer professionellen Familie
Gaétan Raffi hat gute Erinnerungen an seine zweijährige Lehrzeit: „Ich fand Vorbilder und entwickelte Vertrauen in mich. Ich bekam Anerkennung von kompetenten Leuten.“ Nach dem erfolgreichen Abschluss mit einem berufsqualifizierenden, staatlich anerkannten Zertifikat bewarb er sich bei den Compagnons für die sogenannte „Tour de France“. Dafür erstellte er eine „Adoptions-Arbeit“ mit einem höheren Schwierigkeitsgrad. „Oft wird das Projekt von einem Meister angeregt. Man braucht rund 40 Stunden und beweist seine Motivation“, erklärt Gaétan Raffi. Die „Adoption“ ist die Aufnahme in die professionelle Familie als „Anwärter“ auf den Titel „Compagnon“.

Initiationsritual – das alte Leben hinter sich lassen
Die „Adoption“ wird mit einem nicht öffentlich vollzogenen Ritual besiegelt, das hilft, die getroffene Entscheidung zu festigen und das die Ablösung vom bisherigen Leben unterstreicht. Dann gilt es, die Heimat für die „Tour“ zu verlassen. Während der vier bis fünf Jahre der Wanderschaft wohnen die AnwärterInnen verpflichtend in Zentren oder Häusern der Compagnons und arbeiten wochentags Vollzeit in Betrieben ihres Gewerkes. Vor seiner Reise erhält der Aspirant einen mit seiner Heimatregion verbundenen Namenszusatz: Aus Gaétan Raffi wird „Manceau Raffi“, von Le Mans, der größten Stadt seiner Heimatregion, dem Departement Mayenne im Nordwesten Frankreichs.

Ein gutes Leben zusammen mit anderen führen
Die „Tour“ hat etwas Klösterliches und zielt auf die Entwicklung einer freien, fähigen, würdigen und großzügigen Persönlichkeit, zugleich weltoffen und verankert in einer Gemeinschaft. Gewohnt wird in Mehrbettzimmern, morgens und abends wird gemeinsam gegessen, alle leisten Gemeinschaftsdienste, wie etwa Putzen. Wochentags von 20 bis 22 Uhr und samstags vormittags wird im Haus unter Anleitung von Compagnons in fachspezifischen Kursen und Werkstätten gelernt. Die Zimmerer üben insbesondere die Stereotomie, die darstellende Geometrie im Raum und den zeichnerischen Abbund.
Selbstbestimmung und Zusammenhalt gehen Hand in Hand
Für Gaétan Raffi ist klar, dass man sich in dieser Struktur schneller entwickelt, als in jeder anderen Bildungs- und Ausbildungsstruktur. „Man lebt in einer professionellen Familie mit starkem Zusammenhalt und ist in dieser intensiven Zeit getragen, begleitet und angeleitet. Man wird leidenschaftlich, perfektioniert sich. In dieser Zeit habe ich die mentale Einstellung für ein selbstbestimmtes Leben entwickelt. Ich bin so erwachsen geworden, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.“

Eine Öffnung auf die Welt
Alle sechs Monate geht es in eine andere Region. Manceau Raffi lernte acht verschiedene Zentren, Betriebe und Städte kennen. Außerdem hat er das verpflichtende Jahr im Ausland gearbeitet. „Ich war in Südengland in einem auf die Holzskelett-Bauweise mit Eiche spezialisierten Betrieb.“ Die Wanderschaft, das Zusammenleben, die Anleitung durch verschiedene Ausbilder weiten den Horizont. „Die Reisejahre haben mir die Augen geöffnet,“ findet Gaétan Raffi.
Reifeprüfung Abschlussprojekt
Regelmäßig fertigen AnwärterInnen eine „Positionierungs-Arbeit“ an, um ihre Entwicklung zu zeigen und korrigierendes Feedback zu bekommen. Irgendwann fühlen sie sich reif genug und präsentieren sich einer Versammlung von Compagnons mit einem Abschlussprojekt. Ein „Mentor“ oder eine „Mentorin“ begleitet sie bei der Anfertigung ihrer „Annahmearbeit“, „Travail de reception“, die früher „Meisterwerk“ hieß.

Das Meisterwerk ist eine Grenzerfahrung
Gaétan Raffi erklärt: „Hier zeigt man, dass man ‚fähig‘ ist und eine besondere Herausforderung bewältigen kann. Mit dieser Arbeit verbringt man rund fünf Monate. Man arbeitet in diesen Wochen von 7 bis 17 Uhr im Betrieb und von 18.30 bis 23.30 Uhr an der Annahmearbeit. Die unausweichliche Erschöpfung ist gewollt. Aspiranten werden an ihre Grenzen geführt. „Man schläft über mehrere Monate nur wenige Stunden, lebt wie ein Einsiedler, ganz in die Arbeit und nach innen zurückgezogen. Man ist extrem müde. Da fällt jede Maske ab, die eigene Persönlichkeit tritt zu Tage. Man kann dem nicht ausweichen und steht nackt da. Das ist das Spezielle und mir hat das sehr viel gebracht“, erklärt der Compagnon.
Die Annahme ist auch eine Selbstannahme
In diesem Zustand präsentieren AspirantInnen vor einer Kommission reflektierend ihre Entwicklung sowie ihre „Annahme-Arbeit“. Was ist gut gelaufen, was nicht? Wo war es schwierig? Dieser Prozess heißt „Korrektur“ und beinhaltet zugleich Selbstkritik und Selbstannahme. Wird der Aspirant von den Compagnons als würdig anerkannt, erlebt er in einem Ritual eine zweite initiatorische Verwandlung.

Die Pflicht der Compagnons lautet zurückgeben
Nach diesem Annahme-Ritual ist die „Tour“ beendet. Es beginnt die zweijährige Zeit der „Pflicht“. Im ersten Jahr unterrichten die jungen Compagnons neben ihrer Arbeit als Zimmerer in einem Betrieb abends und Samstag vormittags die Gruppe der Zimmerer in einem Haus der Compagnons. Im zweiten Jahr sind sie entweder Vollzeit-Ausbilder der Compagnons in einem Zentrum, leiten ein solches als „Propst“ oder sie arbeiten so weiter wie im ersten Jahr.
„Man gibt zurück, damit sich der Kreislauf der Erfahrung schließt“, erklärt Gaétan Raffi. „Der Austausch ist wichtig im Lebens als Compagnon. Mir wurde geholfen und das hat mir Lust gemacht, anderen jungen Leuten zu helfen.“ In der Zeit der Pflicht sind die Compagnons noch „itinérant“, im Sprachgebrauch der Walz: „Fremdgeschriebene“. Sie bilden sich zusätzlich in Betriebsführung und digitalen Techniken fort, denn bis dahin lag der Schwerpunkt auf dem traditionellen, analogen Handwerk.

Sich niederlassen
Nach zehn Jahren einer besonderen Entwicklungsreise wird der Manceau Raffi sich im März als „sesshafter Compagnon“ in Gisors, im normannischen Vexin niederlassen, als Angestellter bei Charpente Pays de Bray. Er und seine Verlobte wollen 2026 heiraten. Doch auch dann wird Manceau Raffi sich weiter für die nächste Generation Zimmerer einsetzen. „Das ist eine Ehre. Ich habe gelernt, dass ich alles lernen kann, was ich brauche, um zu schaffen, was ich will, aber noch nicht kann. Das will ich weitergeben.“
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