Reetdachdeckerin Moira Memmhardt hat Bock auf altes Handwerk
25. Juni 2024
Klug und geschickt ihre Hände und Körperkraft einsetzen, mit traditionellem Werkzeug ein Naturmaterial bearbeiten, ein Werk schaffen, dabei umweltverträglich arbeiten, ohne Chemie, ohne Giftstoffe, nachhaltig: Das ist es, was Moira Memmhardt (30) wollte, als sie Tischlerin wurde. Doch im Arbeitsalltag als Gesellin gab es zu viele Maschinen, ein eher industrielles Arbeiten und wenig ökologisches Denken. Zudem war die Arbeit auch noch schlecht bezahlt. So sattelte die Tochter eines Reetdachdeckers 2018 um und lernte seitdem in Zusammenarbeit mit ihrem Vater die vielen Techniken und Kniffe eines uralten, heute noch lebendigen und gut bezahlten Handwerks.
Die Arbeit ist zu 100 Prozent ökologisch
„Mir gefällt an dem Beruf besonders gut, dass die Arbeit zu 100 Prozent ökologisch ist. Nachhaltig zu leben ist mir wichtig. Privat kaufe ich fair, bio und regional ein. Auf der Arbeit sehe ich bei den anderen Gewerken am Bau so viele Kunststoffe und Chemikalien, die Leute müssen Gehörschutz tragen. All das habe ich auf dem Reetdach nicht“, berichtet Moira Memmhardt. Sie ist draußen in der Stille. „Ich brauche nur Draht, eine spezielle Nadel, die die üblichen zwei Nadeln der Reetdachdecker ersetzt, eine Zange und ein Klopfbrett. Wir werfen uns die Bunde Reet mit einer speziellen Wurftechnik hoch aufs Dach. Dort nähen wir sie quasi mit Draht und Nadel fest“, erläutert Moira Memmhardt.
Reetdachdeckerin mag körperliche Anstrengung
Das ist körperlich sehr anstrengend und man braucht auch ein gutes Gleichgewicht. „Aber genau das mag ich. Ich bin auch privat viel draußen und in Bewegung, Baden am See, Campen, Gartenarbeit.“ Moira Memmhardt mag körperliche Anstrengung und geht gerne mit Freunden Bouldern in der Halle. „Allein durch die Arbeit habe ich dafür die nötige Kraft in Armen und Fingern.“
Im Reisegewerbe als Ein-Frau-Betrieb unterwegs
Weil es im Verhältnis zur Nachfrage viel zu wenig ReetdachdeckerInnen gibt, ist Moira Memmhardts Fachkompetenz sehr gefragt. Die gute Auftragslage gibt der versierten Handwerkerin eine besondere Freiheit. Moira Memmhardt arbeitet, wie ihr Vater, als Reisehandwerkerin. Die nur in Deutschland zu findende Rechtsform des Reisegewerbes ermöglicht ihr, ohne Dachdeckergesellenbrief als Reetdachdeckerin zu arbeiten und ohne Meisterbrief selbständig zu sein, verbietet ihr aber auch, für sich Werbung zu machen.
Moira Memmhardt verteilt Visitenkarten dort, wo sie ein renovierungsbedürftiges Dach sieht und unterhält als Referenz für die geleistete Arbeit ihren Instagram-Account mit dem Namen Thatching Girl. Thatching ist der englische Fachausdruck für Reetdachdecken und Thatching liegt auch in England voll im Trend.
Das Wissen weitergeben
„Ich arbeite jetzt im sechsten Jahr als selbständige Reetdachdeckerin und habe nicht vor, einen Gesellenbrief als Dachdeckerin zu machen. Mit meinem Gesellenbrief als Tischlerin, Berufserfahrung auf dem Bau und als Dachdeckerin kann ich irgendwann direkt den Dachdeckermeister machen. Um mein Wissen später weitergeben und Nachwuchs auszubilden zu können, würde ich das machen, aber erst in einigen Jahren.“ Als Meisterin mit Auszubildenden müsste Moira Memmhardt dann ein stehendes Gewerbe anmelden und bräuchte Betriebsräume. „Als Reisehandwerkerin darf ich dagegen jetzt auch Maurer-, Tischler- und Zimmererarbeiten übernehmen. Im Winter arbeite ich mit Zimmerern im Innenausbau. Das alles mache ich selbständig und die Entscheidungsfreiheit, welche Aufträge ich annehme oder ablehne, ist mir sehr wichtig.“
Reetdachdecken ist immaterielles Kulturgut der UNESCO
Reetdachdecken wurde 2014 von der Deutschen UNESCO-Kommission in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen, als regionale, vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein noch praktizierte alte Handwerkskunst. Moira Memmhardt kommt aus Dannenberg im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg, auch als Wendland bekannt. In der Region, entlang der Elbe mit ihren weitläufigen Talauen, prägen Reetdächer das Bild vieler Orte.
Nicht mehr das Dach der Armen
Hier findet die Reetdachdeckerin mehr als genug Kundschaft. Denn was bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das Dach der armen Leute war, ist inzwischen zum Dach der begüterten und der alteingesessenen Familien geworden. Das wunderschöne Reetdach ist heute Aushängeschild für Wohlstand und Traditionsbewusstsein. In Kampen auf Sylt ist ein Reetwalmdach sogar für fast alle Häuser vorgeschrieben.
Ein uraltes Handwerk
Reetdächer gibt es, seit Menschen in der Jungsteinzeit sesshaft wurden. In Deutschland finden sich archäologische Nachweise von Reetdachdächern, die 6000 Jahre alt sind. Das Material Schilfrohr, auch Teichrohr oder Ried genannt, wächst weltweit an den Rändern von Gewässern, in Mooren und Auenwäldern, von den Küstenniederungen bis in die Gebirge. Die im Wasser gedeihende Pflanze ist wasser- und bakterienresistent, getrocknet daher langlebig, außerdem wärmedämmend sowie schallschützend. Ein idealer, nachwachsender Baustoff. Allerdings kann der Bedarf an Reet in Deutschland nicht mehr durch eigenen Anbau gedeckt werden. So kommt das Schilfrohr heute aus Österreich oder Dänemark, Ungarn, Rumänien, der Türkei oder China.
Reetdachtechnik ist Wahlschwerpunkt in Dachdeckerlehre
Aber das Reetdach hat nicht nur Tradition, sondern wegen seiner Nachhaltigkeit und Energieeffizienz auch eine Zukunft. Deswegen wurde 1998 die Reetdachtechnik erstmals als Wahlschwerpunkt in die Ausbildungsverordnung für DachdeckerInnen aufgenommen. In der Verordnung heißt es: „Diese Art der Dachdeckung hat sich in den vergangenen Jahren einen ernstzunehmenden Platz erobert. Mit Reet gedeckte Dächer erfreuen sich vor allem in den europäischen Küstengebieten mehr denn je großer Beliebtheit.“ Auszubildende im Dachdeckerhandwerk können im dritten Lehrjahr den Schwerpunkt Reetdachtechnik wählen.
Dächer aus Roggenstroh restauriert
Doch zurück zu Moira Memmhardt: Des Öfteren erhält die 30-Jährige bei öffentlichen Ausschreibungen den Zuschlag und manchmal verschlägt es sie für besondere Aufträge in den Süden Deutschlands. Dann restauriert sie zum Beispiel im Freilichtmuseum Illerbeuren im bayrischen Schwaben Dächer aus Roggenstroh. Das war bis ins 19. Jahrhundert in der Region die verbreitetste Form der Dacheindeckung.
Nachgebaute Pfahldörfer aus der Stein- und Bronzezeit neu eingedeckt
Und vor Kurzem erst hat Moira Memmhardt über mehrere Wochen im Pfahlbaumuseum Unteruhldingen am Bodensee von Stürmen zerstörte Reetdächer in den dort nachgebauten Pfahldörfern aus der Stein- und Bronzezeit neu eingedeckt. Selbst für eine gestandene Reetdachdeckerin ist so ein Arbeitsplatz spektakulär: eine in die Anfänge der Sesshaftigkeit des Menschen zurückreichende, historisch nachempfundene Siedlung, die auf Pfählen im Bodensee steht. „Das war ein besonderes Highlight: Unter mir der Bodensee und im Panorama, bei klarer Sicht, die Alpen.“
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