Violeta Grawitter beliefert mit ihrem 24-Tonner Dachbaustellen
19. Januar 2023
Anfang der 2010er Jahre trug Violeta Grawitter noch Tabletts mit Essen und Getränken zu wartenden Gästen, heute versorgt sie Baustellen von Dachdeckern und Zimmerern mit Holz, Dachziegeln, Blechen und Co. Immer dabei: ihr MAN-Kranwagen mit drei Achsen, der 24 Tonnen auf die Waage bringt.
Violeta Grawitter ist mit Herz und Seele Lkw-Fahrerin. Als Exotin in einer Männerdomäne ist sie seit gut drei Jahren im Tagesgeschäft mit Material zu den Kunden der DEG Alles für das Dach eG in der Region Saarbrücken unterwegs. Vor ihrer Anstellung bei der Genossenschaft war sie bereits einige Zeit im Transportgewerbe der Baustoffbranche beschäftigt.
Ein in Erfüllung gegangener Traum
Dass die 46-jährige Mutter eines 20-jährigen Sohnes in einem Führerhaus sitzt, ist kein Zufall, sondern Ergebnis entschlossenen Handels. „Ich habe mir damit einen Traum erfüllt“, freut sich die gebürtige Bulgarin. „Ich fühle mich frei, bin draußen unterwegs und lebe ein tolles Leben.“ Sie habe sehr viel Spaß auf der Arbeit. „Mein Job ist sehr spannend und abwechslungsreich.“ Ein Grund dafür ist der Kran: „Das ist noch mal eine Besonderheit und schon eine spannende“, schildert sie. „Jede Baustelle ist anderes, jede Ladung ist verschieden und das ist herausfordernd“, berichtet Violeta Grawitter
Schichtbeginn in St. Ingbert
Ihre Schichten beginnen nahe ihres Wohnortes Saarbrücken in der DEG-Niederlassung St. Ingbert. Hier übernimmt sie mehrmals täglich ihren beladenen Lastwagen und verlässt für unterschiedlich lange Touren den Hof. „Meistens sind es drei Fahrten pro Tag, jeweils zu je drei oder vier Kunden“, schätzt sie den Umfang. Manchmal liefere sie aber auch eine komplette Zuladung zu einem einzigen Ort. „Das Abladen dauert je nach Baustelle und mitgenommenem Material zwischen 15 Minuten und einer Stunde“, erzählt sie.
Das Gros spiele sich dabei innerhalb eines 30-Kilometer-Radius ab. Die weiteste Strecke, die sie bisher für die Genossenschaft zurückgelegt hat, seien etwa 100 Kilometer hin und zurück gewesen. „Doch das kommt echt selten vor“, zählt Violeta Grawitter im Geiste solch lange Touren nach.
Lkw-Fahrerin: immer noch eine Seltenheit
Vor allem anfänglich, als sie täglich auf für sie neue Kunden traf, gehörte Verwunderung bei ihrer Ankunft stets dazu. Denn nicht nur für sie als Fahrerin war jedes Treffen eine Premiere, sondern auch für die Dachdecker und Zimmerer auf den Baustellen ein ungewohnter Anblick. „Was hat die denn hier verloren?“, erzählt Violeta Grawitter, habe sie nicht nur einmal hören müssen. Feindschaft habe sie dabei jedoch nie verspürt. „Mehr Neugier, nichts Negatives“, stellt sie klar. Derweil ist aus der anfänglichen Überraschung ein angenehmes Miteinander im Alltag geworden. Denn „inzwischen kennt man sich“, berichtet sie.
Allerdings bereite ihr heutzutage das Spiel mit der Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität bisweilen sogar Freude. „Wir beliefern ja auch immer mal wieder Kunden, die mich noch nicht kennen“, erzählt sie. Hier kündige sie im Vorfeld selbst telefonisch an, dass ein „Fahrer“ mit Material komme. Und wenn dann die weibliche Stimme „aus dem Büro“ plötzlich mit Lkw samt Kran aufs Gelände fährt, sei der ein oder andere freundliche Lacher garantiert.
Lkw-Fahrer: Nur zwei Prozent Frauen
Dass kaum ein Dachdecker eine Lkw-Fahrerin auf der Baustelle erwartet, hat natürlich auch mit dem geringen Frauenanteil in diesem Beruf zu tun. Laut Daten des Statistischen Bundesamtes waren 2020 in Deutschland nur zwei Prozent aller sozialversicherungspflichtig beschäftigten Lkw-Fahrer weiblich. Und das ist sogar der bisherige Rekordwert, mehr waren es noch nie.
Fehlendes Verständnis der Pkw-Fahrer
Die Gründe dafür kann auch Violeta Grawitter nur erahnen, aber ein Faktor ist sicher der Straßenverkehr. Denn inmitten von Pkw-Fahrern unterwegs zu sein, sei für einen Lkw-Profi nicht immer einfach. „Es ist ein buntes Bild, aber leider gibt es einige da draußen, die sich, mich und andere gefährden.“ Allerdings seien etliche wirklich verständnisvoll, nimmt die 46-Jährige die Mehrzahl der Verkehrsteilnehmer in Schutz. Aus ihrer Sicht sei es entscheidend, dass mehr Autofahrer versuchen, sich in die Lkw-Fahrer und ihre Probleme hineinzudenken. Beispielsweise wäre es lehrreich, sich klarzumachen, welchen Kurven- oder Wenderadius solch ein fast zehn Meter langes Gefährt aufweist.
Ein schwerer Unfall wäre Ende des Jobs
Bisher sei zum Glück noch nie Schlimmeres passiert. Schäden an der Ladung kommen ab und an zwar leider vor, aber in einen ernsthaften Unfall sei sie noch nie verwickelt gewesen. „Das will ich mir auch nicht vorstellen“, gibt sie zu und hält kurz inne. „Dann wäre auch Schluss.“
Die Unfallgefahr sei sicher ein Grund für diesen übermäßigen Respekt, den sie immer wieder in den Augen junger Frauen sehe, wenn es um das Fahren eines 24-Tonners geht. „Ich kann die Berührungsangst gut verstehen“, sagt sie mit Blick auf den geringen Anteil an Frauen unter ihresgleichen. „Aber das ist ein toller Job“, meint Violeta Grawitter. Mit der gebotenen Umsicht sei die Branche für Frauen das richtige Arbeitsfeld. Denn Freiheitsliebe, Verantwortungsgefühl und Sorgfalt seien doch Stärken ihres Geschlechts.
Violeta Grawitter will ihren Traum noch lange leben
„Es braucht nur Mut“, und den wünsche sie sich bei viel mehr Heranwachsenden. „Lebt euren Traum, ich habe damit angefangen, tue es bis heute und habe es keine Sekunde bereut.“ Violeta Grawitter will ihrem 24-Tonner noch möglichst viele Jahre treu bleiben. „So lange, wie ich noch mit Ladefläche und Kran hinter mir rumfahren kann, bleibe ich dabei“, erklärt die Lkw-Fahrerin aus Leidenschaft.
Sie interessieren sich für starke Frauen in einst typischen Männerbranchen? Dann lesen Sie unsere Storyüber die Dachdeckergesellin Raffaella Ebert. Die alleinerziehende Mutter startet auch sportlich voll durch: Sie ist Deutsche Meisterin im Thaiboxen.