Dachdecker wollen in der Bundeshauptstadt ganz oben bleiben
23. April 2024
In vielen Städten begann die Hochkonjunktur des Dachdeckerhandwerks mit dem Beginn des Industriezeitalters, als dringend Wohnraum in den Städten benötigt wurde. Die Dachdecker Berlins konnten Ende des 19. Jahrhunderts aber bereist auf ein halbes Jahrhundert Innungsgeschichte zurückblicken. Und heute ist die Innung – inzwischen Landesinnung des Dachdecker-Handwerks Berlin – schon über 180 Jahre lebendig.
Acht Bezirksmeister pflegen Kontakte vor Ort
Mit über 890 Quadratkilometer Fläche ist die Bundeshauptstadt fast dreimal so groß wie München – und sogar größer als die Landfläche New Yorks. Da scheint es doch sehr schwierig, einen Zusammenhalt zwischen den rund 200 Mitgliedsbetrieben des Dachdecker-Handwerks zu erhalten. Die Realität sieht anders aus – und das liegt vielleicht auch daran, dass die Landesinnung nicht mit Tempo 30 arbeitet, sondern permanent richtig Gas gibt. Dabei stehen neben Landesinnungsmeister Stephan Ziemann und seinem Stellvertreter Oliver Möckel acht Bezirksmeister mit auf dem Gaspedal, die den direkten Kontakt zu ihren Kolleginnen und Kollegen vor Ort pflegen.
Hoher Organisationsgrad der Berliner Dachdecker
Das Ergebnis kann sich im Organisationsgrad sehen lassen: Zwei von drei Berliner Dachdecker-Betrieben sind Mitglied in der Landesinnung. Ein weiterer Grund dafür könnte auch die Nähe von berufsständischer Organisation und Aus- und Weiterbildung sein. Das nördliche Ende der Nicolaistraße in Berlin-Zehlendorf mag rein städteplanerisch eine Sackgasse sein – für das Berliner Dachdecker-Handwerk ist es eine Straße in die Zukunft.
Knapp 300 Azubis in den drei Lehrjahren
Denn hier ist in einem ehemaligen Fabrikgebäude aus den 1920er Jahren seit 1994 der Sitz der Innungsgeschäftsstelle und der Aus- und Weiterbildungsstätte der Dachdecker in der Bundeshauptstadt. „Bis zu 300 angehende Dachdeckerinnen und Dachdecker bilden wir hier in allen drei Lehrjahren aus“, berichtet Landesgeschäftsführer Sebastian Bobinski. „Dazu steigen hier pro Jahr in unserem Meisterkurs rund 20 Teilnehmer die Karriereleiter weiter nach oben.“
Mathe-Werkstatt für schwächere Lehrlinge
Die Bandbreite der schulischen Vorqualifikation ist enorm: „Einerseits gibt es leider gerade hier in Berlin oft enorme Defizite in der deutschen Sprache – und das Mathe-Niveau liegt nicht selten etwa auf Höhe von Fünft- und Sechstklässlern“, bedauert Bobinski. Eine Art „Aufholjagd“ für die schwächeren Azubis ist die im März 2024 gestartete Mathe-Werkstatt, die sich zuvor schon beim Landesinnungsverband Sachsen bewährt hat. Sie soll dabei helfen, schulische Defizite auszugleichen, die einer Gewerke spezifischen Ausbildung im Wege stehen würden.
Schnellläuferklasse für die Top-Azubis
„Andererseits haben wir eine Schnellläuferklasse mit aktuell 26 Schülerinnen und Schülern, meist Abiturienten, die eine verkürzte Turbo-Ausbildung absolvieren“, erklärt Bobinski. Ermöglicht wird dieser „Ausbildungs-Booster“ durch das enorme Engagement der Ausbilder im Bildungszentrum und der Lehrkräfte an der Berufsschule.
Wer die Ausbildung erfolgreich absolviert hat, kann im Job Vollgas geben. Der Arbeitsplatz für gute Dachdecker ist in Berlin aktuell noch ebenso sicher wie das gefüllte Auftragsbuch für gute Betriebe. An erster Stelle steht bei den 200 Dachdecker-Innungsbetrieben die energetische Sanierung.
PV-Aufträge aus Kostengründen zurückgestellt
Der große Solarboom nach Einführung einer Solaranlagen-Pflicht zum Jahresbeginn 2023 für Neubauten und umfassende Sanierungen steht hingegen auf dem Bremspedal. „Viele Aufträge werden aus Kostengründen zurückgestellt“, bedauert Landesgeschäftsführer Bobinski. Eine der Ursachen sieht der Jurist in der unklaren Förderlage nach den Senatswahlen. „Eigentlich schade – denn damit werden nachhaltige Bauprojekte ausgebremst oder landen zumindest in der Warteschleife.“
Und genau eine solche Warteschleife, auch bei der Schaffung von Wohnraum, kann sich die Bundeshauptstadt ganz und gar nicht leisten. Von der Verunsicherung profitieren zurzeit verstärkt mobile Solarteur-Handwerkerkolonnen, die leider manchmal mit einer wenig qualifizierten Ausführung das Geld von investitionsbereiten Hausbesitzern vernichten.
Gute PV-Kooperation mit dem Elektrohandwerk
Gibt es denn – wie in anderen Landesverbänden und auf Innungsebene – auch in Berlin eine Kooperationsvereinbarung mit dem Elektrohandwerk in Sachen PV? „Der Vertrag liegt gerade vor mir – und ist aber nicht unterschrieben“, so Bobinski. „Aber in der Praxis kooperieren wir bei der Photovoltaik schon lange erfolgreich mit unseren Kolleginnen und Kollegen im E-Handwerk Berlin-Brandenburg – auch ohne Unterschrift.“
Zusammenarbeit mit Behörden ist ausbaufähig
Im Gegensatz dazu ist die Zusammenarbeit mit den Behörden manchmal nicht ganz so kooperativ, wenn es um die Sondernutzung von Verkehrsflächen geht. Da sind schon mal drei Monate Vorlauf der Alltag – zu lange und zu unrealistisch, meint Bobinski. Da bleibt den Dachdecker-Betrieben manchmal nur reiner Pragmatismus: Gerüst oder Kran aufstellen und parallel die Sondernutzung beantragen. „Inzwischen hat sich in Berlin aber durchaus auch in den Amtsstuben die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir alle das Handwerk brauchen“, freut sich der Geschäftsführer. Es gibt also viel zu tun – und das täglich – für das zwölfköpfige Team der Geschäftsstelle und des Ausbildungszentrums in Berlin.
Landesgeschäftsführer mit handwerklichem Background
Für Sebastian Bobinski persönlich ist das Handwerk kein Neuland. Bevor er im Mai 2023 seinen Schreibtisch in der Landesinnung besetzte und Anfang September 2023 die Nachfolge des langjährigen Geschäftsführers Ruediger F. Thaler antrat, der inzwischen den wohlverdienten Ruhestand genießt, war er zehn Jahre lang Geschäftsführer der Berliner Tischlerinnung. Und auch als Volljurist erinnert er sich an die „handwerklichen Schnittmengen“ in seiner Familie. Bobinskis Vater war gelernter Bootsbauer und als Schiffszimmermann für die schwedische Handelsflotte auf hoher See unterwegs. Außerdem packte der heutige Dachdecker-Landesgeschäftsführer schon in seiner Jugendzeit bei seinem Onkel in der Reklame- und Schildermacherwerkstatt mit an.
Nach Feierabend gerne mal Rudern
Und auf was freut sich der 48-Jährige nach Feierabend? Sebastian Bobinski muss nicht lange überlegen: „Auf die tolle Zeit mit meiner Frau und unseren beiden Kindern – und darauf, dass ich mal wieder Zeit fürs Rudern habe.“ Wer ihn kennengelernt hat, darf sich sicher sein: Auch im Boot legt er sich voller Motivation in die Riemen.