Potenzial Dachaufstockung: Millionen neue Wohnungen
19. Oktober 2023
Für Dachdecker und Zimmerer ist das Geschäftsfeld Dachaufstockung schon jetzt lukrativ. Doch das Potenzial ist viel größer: Bis zu 2,7 Millionen Wohnungen könnten laut einer seriösen Studie auf diese Weise geschaffen werden. Woran es bislang fehlt, ist der politische Wille.
400 000 ist aktuell die heilige Zahl. So viele neue Wohnungen sollen jedes Jahr nach dem Willen der Bundesregierung geschaffen werden. Doch die Realität sieht anders aus. Im vergangenen Jahr wurden gerade einmal 295 300 neue Wohnungen gebaut. Und im ersten Halbjahr 2023 wurde in Deutschland der Bau von nur 135 200 Wohnungen genehmigt. Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, waren das 27,2 Prozent oder 50 600 Baugenehmigungen weniger als im ersten Halbjahr 2022. Die Bauwirtschaft schlägt seit Monaten Alarm und rechnet für dieses Jahr mit der Fertigstellung von maximal 250 000 neuen Wohnungen.
Dachaufstockung: Bis zu 2,7 Millionen neue Wohnungen
Politik und Bauverbände schauen wie gebannt fast ausschließlich auf den Neubau und wie er sich fördern lässt. Dabei haben die Deutschlandstudien von TU Darmstadt und Pestel Institut bereits 2016 und 2019 aufgezeigt, wo es große räumliche Reserven gibt – bei der Dachaufstockung, vor allem in den Städten. Die Autoren sehen in diesem Bereich ein riesiges Potenzial von 2,3 bis 2,7 Millionen Wohnungen.
Dachaufstockung ist zudem wichtig, um die Ziele der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie für den Klimaschutz zu erreichen. Denn die Bundesregierung will den täglichen Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche in Deutschland bis zum Jahr 2023 auf unter 30 Hektar begrenzen, was bislang nicht gelingt. Im vierjährigen Mittel der Jahre 2018 bis 2021 lag der Flächenverbrauch durchschnittlich bei 55 Hektar pro Tag.
Das Szenario Neubau ist am Abstürzen
Wie soll das also funktionieren mit den jährlich 400 000 neuen Wohnungen, wenn es auf der einen Seite weniger Versieglung neuer Bodenflächen geben soll für den Klimaschutz und die Co²-Bilanz im Neubau mit Beton eher katastrophal ist? Auf der anderen Seite stehen zudem die steigenden Zinsen, die Inflation und die hohen Materialkosten. „Das kann nicht funktionieren, vor allem, wenn alle ihre Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften haben wollen. Das Szenario Neubau ist am Abstürzen“, erklärt Matthias Günther, Leiter des Pestel Instituts.
Mehr Förderung für Mehrgeschossbau
Günther lässt die Zahlen sprechen. Die im März 2023 gestartete Wohnungsbauförderung über die KfW hat ein jährliches Volumen von 750 Millionen Euro. Gefördert werden nur noch Neubauten, die die Effizienzhausstufe 40 erreichen. „Wenn man pro Kredit eine benötigte Summe von 140 000 Euro annimmt, könnten 5000 bis 5500 Häuser gefördert werden.“ Das sei ein Tropfen auf den heißen Stein. „Zumal in Deutschland die Zuwanderung weiter läuft, allein 2022 waren es 1,45 Millionen Menschen“, weiß Günther.
Wenn Neubauförderung, dann müsse sie stärker in den Mehrgeschossbau fließen. Denn klar ist laut Günther, dass die zuwandernden Menschen zunächst alle auf den Mietwohnmarkt mit aktuell 22 Millionen Wohnungen drängen, der vor allem in den Städten schon überlaufen ist. Nach einer weiteren, Anfang 2023 veröffentlichten Studie des Pestel-Instituts fehlen aktuell 700 000 Wohnungen. Die dadurch verursachte Knappheit birgt sozialen Sprengstoff.
Bündnis bezahlbarer Wohnraum
Aus dem Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) heißt es dazu auf Nachfrage: „Grundsätzlich sind die Förderprogramme des Bundes im Bereich Neubau auch für innerstädtische Verdichtungsmaßnahmen wie den Dachausbau oder Aufstockungen zu verwenden, auch wenn es für letztere kein eigenständiges Förderprogramm gibt. Sehr im Sinne des BMWSB hat sich allerdings das Bündnis bezahlbarer Wohnraum darauf verständigt, dass zusätzliche Anreize für eine stärkere Innenverdichtung diskutiert und entsprechende Instrumente erarbeitet werden sollen.“
Fehlt es am politischen Willen zur Dachaufstockung?
Das bleibt also eher vage, obwohl vieles für die Aufstockung im Bestand spricht. Doch hier fehlt Institutsleiter Günther der politische Wille in Sachen Rahmenbedingungen und Förderung, was angesichts des Potenzials erstaunlich ist. Schaut man auf die aktuellen Debatten um den Wohnungsbau, spielt das Thema Dachaufstockung kaum eine Rolle, oder? „So generell kann man nicht sagen, dass die Aufstockung im Bestand nicht wahrgenommen wird“, erklärt Ulrich Marx, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands des Deutschen Dachdeckerhandwerks (ZVDH), und nennt Beispiele.
Erste Vereinfachungen der Landesbauordnungen
Das Bundesland Nordrhein-Westfalen habe im Juni 2021 eine Neuregelung auf den Weg gebracht, um Dachgauben und vergleichbare Dachaufbauten ohne ein vollständiges und entsprechend zeitraubendes Baugenehmigungsverfahren errichten zu können. Allerdings gebe es zwei Bedingungen: Die Aufbauten müssen die städtebaulichen Interessen vor Ort und die Sicherheitsaspekte in Bezug auf die Neubauten wahren und der Bauherr müsse eine statisch-konstruktive Unbedenklichkeit nachweisen. In Bayern wurde die Verpflichtung, bei Aufstockungen aus Gründen der Barrierefreiheit Aufzüge einzubauen, abgemildert. Ähnliches passierte auch in Baden-Württemberg, wo durch Änderungen der Landesbauordnung Aufstockungen und Ausbau vereinfacht und entsprechende Genehmigungsverfahren beschleunigt wurden.
Ideen aufgreifen und Anreize für Umsetzung schaffen
„Die Länder sind zum Teil schon weiter, denn entsprechende Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und FDP, bereits 2019 in den Bundestag eingebracht, wurden damals abgelehnt“, so Marx weiter. Diese Anträge sahen Sofortprogramme für den Ausbau der Dachgeschosse vor, mit konkreten Zielen, Förderideen und unter Berücksichtigung energetischer Sanierungsmaßnahmen sowie dem Einsatz von PV-Anlagen. „Das Thema ist schon im politischen Bewusstsein angekommen. Aber es wäre jetzt an der Zeit, die vorliegenden Ideen seitens der Bundesregierung aufzugreifen und Anreize für eine Umsetzung zu schaffen“, erläutert Marx.
Verdichtung in Städten ohne neuen Flächenverbrauch
Was die Hausaufgaben für die Politik sind, lässt sich der Deutschland-Studie entnehmen. Diese sieht vor allem auf Wohngebäuden der 1950er- bis 1990er-Jahre das meiste Potenzial in der Aufstockung mit bis zu 1,5 Millionen Wohnungen. Zudem könnten über 500 000 Wohnungen auf den Dächern von Büro- und Verwaltungsgebäuden, 350 000 weitere durch Umnutzung von leerstehenden Büroflächen und noch einmal über 400 000 auf den Flächen des eingeschossigen Einzelhandels sowie auf den Dächern von Parkhäusern entstehen. Dabei handelt es sich um eine Verdichtung in Städten, die ohne neuen Flächenverbrauch auskommt, der ja politisch immer weniger gewünscht ist.
Förderung und steuerliche Absetzbarkeit
Die Deutschland-Studie sieht zwei zentral Stellschrauben, um das Thema Aufstockungen endlich voranzubringen. Zum einen sollte es in Gebieten mit erhöhtem Wohnraumbedarf eine staatliche Förderung geben. Da die Durchführung von Aufstockungen in der Regel einen erhöhten Abstimmungs- und Planungsaufwand erfordere, gehöre dazu laut den Autoren auch, diesen vorgelagerten Aufwand mit 50 Prozent bis zu einer Summe von 5000 Euro zu fördern. So sollten etwa Mieter und Nachbarn angemessen beteiligt werden. Und schließlich sollten die Afa-Sätze für die steuerliche Absetzbarkeit auf fünf Prozent erhöht werden.
Neue steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten
Das passt zu den aktuellen Plänen von Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD). Sie plant, die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Neubauten ab kommendem Jahr befristet bis Ende 2030 zu erweitern. Demnach sollen im Jahr der Fertigstellung eines Gebäudes und in den darauffolgenden drei Jahren jeweils sieben Prozent der Baukosten abgeschrieben werden können. Nach der aktuellen Regelung sind es drei Prozent. Die sogenannte degressive AfA (Absetzung für Abnutzung) würde in den darauffolgenden vier Jahren eine weitere Abschreibung von jeweils fünf Prozent ermöglichen. Allerdings sind diese Steueranreize Teil des sogenannten Wachstumschancengesetzes, das aktuell wegen Streitereien in der Regierungskoalition auf Eis liegt.
Landesbauordnungen müssen angepasst werden
Die zweite Stellschraube liegt für die Studienautoren in Anpassungen der Landesbauordnungen. Das betrifft eine Lockerung von Autostellplatzforderungen, mehr Flexibilität beim Überschreiten der ursprünglich zulässigen Geschossflächenzahl, die Reduzierung der Anforderungen in Sachen Abstandsregeln oder das Thema Barrierefreiheit bei der Aufstockung. Und es sollten alle Baustoffe für tragende und aussteifende Bauteile gleichbehandelt werden, wenn sie die Brandschutzziele erfüllen. Hier geht es auch um den Baustoff Holz, der sich hervorragend für die Dachaufstockung eignet.
Anwohner mitnehmen bei Dachaufstockung in Quartieren
Sicherlich würden in den Landesbauordnungen noch viele Hürden bestehen, meint auch Ulrich Marx vom ZVDH. Anderseits handele es sich beim Dachausbau und der Aufstockung um sehr komplexe Themen. „Neben den in der Studie genannten bauordnungsrechtlichen Rahmenbedingungen, wie Brandschutz, Abstandsflächen und Stellplatzverordnungen, aber auch Schall- und Emissionsschutz, sind bauplanungsrechtliche Aspekte zu berücksichtigen. Und noch ein ganz anderer Aspekt verdient Aufmerksamkeit: Durch Ausbau und Aufstockung werden Wohnquartiere verdichtet, mit allen Vor- aber auch Nachteilen. Hier müssen die Anwohner mitgenommen und dafür gesorgt werden, dass die Lebensqualität nicht leidet und die Vorteile überwiegen.“
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