Endlich oben: Karoline Gieschke startet mit 40 als Dachdeckerin
29. Dezember 2022
Karoline Gieschke, 40 Jahre, Mutter zweier Töchter, hat vor drei Monaten den Beruf gewechselt, nach 20 Jahren als Bürokauffrau, davon 15 Jahre in einer Physiotherapiepraxis, zuletzt in leitender Position. Heute genießt sie als Dachdeckerlehrling den Blick über die Dächer von Plauen, die frische Luft des Vogtlandes und dass sie jeden Tag sehen kann, was sie geschafft hat. Sie ist glücklich, endlich in ihren Traumberuf zu arbeiten.
Faszination Dach: Perspektive von oben
Die Farben der Dachdeckung, das handwerkliche Geschick, das sie zur Geltung bringt sowie der Blick von oben auf die Welt haben Karoline Gieschke schon früh fasziniert. Als Schülerin hatte sie eine Liaison mit einem jungen Dachdecker und war öfters mit ihm auf den Baustellen. „Die Perspektive von dort oben hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.“ Aber auch die Materialien gefallen ihr, insbesondere der Schiefer, und was gute Handwerker damit gestalten können. Als sie damals mit den Eltern ihren Berufswunsch bespricht, haben die jedoch Bedenken.
Mach erstmal was Sicheres
Die Eltern warnen vor der körperlichen Arbeit, der Verletzungsgefahr, dem Verschleiß. „Was, wenn Du Dir was tust?“ fragen sie und raten zu etwas Sicherem, einem Beruf, den es in allen Branchen gibt, der immer gebraucht wird und keine Unfallgefahr birgt. Der kaufmännische Bereich zum Beispiel böte krisensichere Berufe, in denen sich immer eine Anstellung finden lasse. Das Handwerk sei doch mehr was für Männer.
Es scheint eine vernünftige Argumentation zu sein und so vertagt Karoline Gieschke mit 18 Jahren ihren Traumberuf auf später. Das Dachdeckerhandwerk bleibt in ihrem Hinterkopf präsent und die Dächer des Vogtlandes ziehen ihren Blick auf Spaziergängen magisch an. Doch lange Zeit ist Karoline Gieschke das gar nicht so bewusst.
Im Büro: zufrieden, aber auch nicht erfüllt
Zunächst einmal macht sie die Ausbildung zur Bürokauffrau, findet dann eine gute Anstellung und heiratet. Dann sind da die zwei Töchter, außerdem das nette Umfeld in der Physiotherapiepraxis, wo sie sich auch den langjährigen Patienten und Patientinnen verbunden fühlt. Karoline Gieschke geht gerne zur Arbeit. Sie ist zufrieden, aber nicht erfüllt. Es beschäftigt sie, dass die Physiotherapeutinnen der Praxis manchen Patienten und Patientinnen nicht wirklich helfen können. Sie findet es nicht schön, am Ende des Tages auch die eigene Leistung nicht sehen zu können.
Vom vielen Sitzen in der Bewegung
In den langen Tagen, Wochen und Jahren, sitzend vor dem Computer, haben sich zusätzlich Kilo um Kilo überzähliges Körpergewicht angesammelt. „Ich war schon immer nicht die Schlankeste. Lange Zeit hatte ich auch keine Veranlassung, das zu ändern. Aber so, wie ich vor 18 Monaten noch aussah, hätte ich nicht aufs Dach gepasst. Ich wäre vielleicht einmal raufgekommen, vielleicht auch wieder runter. Aber dann wäre ich klinisch tot gewesen!“
Karoline Gieschke sagt das lachend. Denn inzwischen ist sie „einmal komplett neu“. Ihr Leben hat sich sehr verändert. Heute kann sie gar nicht genug Bewegung bekommen: Schwimmen, Laufen, Radfahren, Wandern, Inline-Skating, egal was, egal bei welchem Wetter, Hauptsache draußen.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt
Der Gedanke, sich noch mal beruflich zu verändern ist über die Jahre immer mal wieder aufgetaucht, auch der Vorsatz, ein paar Kilo abzunehmen. Zunächst sind das eher vage Veränderungswünsche, ohne große Kraft. Doch dann stirbt Karoline Gieschkes Mutter – viel zu früh, denn sie hatte noch so viel vor.
In ihrer Trauer beschließt die Tochter, es anders zu machen und die Erfüllung von eigenen Zielen und Träumen nicht weiter aufzuschieben. Sie machte sich eine Liste mit kleinen Wünschen und großen. Darauf steht auch: „gesünder leben“. Das ist ein schon länger gehegter Wunsch, der mit dem Tod der Mutter dringlich geworden ist. Jetzt, das wird immer klarer, muss es auch endlich das Dach sein und um da rauf zu kommen, müssen die überflüssigen Kilos runter.
Ein Jahr Gewicht reduzieren
Mit Hilfe der Kolleginnen in der Physiopraxis machte sich Karoline Gieschke einen Plan. Sie errechnete ihren Kalorien-Grundumsatz, stellte ihre Ernährung auf vegetarisch und komplett zuckerfrei um. Dazu kam ein Bewegungsprogramm. Je klarer und konkreter das Ziel Berufswechsel wird, umso mehr purzeln die Pfunde. Innerhalb eines Jahres nimmt Karoline Gieschke nicht nur die früher einmal anvisierten 15, sondern schließlich ganze 50 Kilogramm ab. So viel weniger musste es für das Normalgewicht und angesichts der Anforderungen an Beweglichkeit im neuen Beruf auch sein. Für den Traumberuf ging das mit dem radikalen Abnehmen plötzlich auch. Ohne diese Motivation, ist sich Karoline Gieschke sicher, hätte das nicht geklappt.
Mit Rücklagen Einkommensverlust ausgleichen
Nicht nur die Kilos purzeln, auch das finanzielle Polster schmilzt. Ohne lange Jahre des Zurücklegens von einem guten Gehalt wäre die Entscheidung sicherlich viel schwerer gefallen. Als Karoline Gieschke den Entschluss fasst, ihr Leben umzukrempeln, hat sie auch genügend Rücklagen, um den Einkommensverlust für ein paar Jahre auszugleichen. Sie will die Lehrzeit verkürzen und denkt, kaum hat sie die Lehre im September begonnen, bereits an den Meisterbrief. Das ist ihr großes Ziel.
„Haben Sie sich das gut überlegt?“
Die Arbeitstage sind lang. Aufstehen kurz nach 5 Uhr. 90 Minuten später verlässt die Mutter gemeinsam mit ihren Töchtern das Haus. Um 16 Uhr ist im Dachdeckerbetrieb Feierabend. An ein paar Tagen in der Woche arbeitet Karoline Gieschke danach noch als Minijobberin für ein paar Stunden bei ihrem alten Arbeitgeber, der Physio-Praxis. Obwohl sie nach der Arbeit auf dem Dach meist fix und fertig ist.
„Beim ersten Gerüststellen hatte ich eine Woche das Gefühl, ich werde nie wieder aufrecht gehen können“, erinnert sich Karoline Gieschke. Doch mit dem täglichen Training, da ist sie sicher, wird sie die körperlichen Herausforderungen als Dachdeckerin gut meistern können. Als sie sich auf die Lehrstelle bewarb, fragte man in dem Betrieb nicht: „Ja meinen Sie denn, dass Sie das können, als Frau mit 40 Jahren?“ Man fragte: „Haben Sie sich das gut überlegt?“
Die Töchter unterstützen die Mutter
Die ältere Tochter findet, es könnte gar nicht anders sein. Vorsichtig hat Karoline Gieschke ihre beiden Töchter auf einen Berufswechsel und die damit einhergehenden finanziellen Einschränkungen vorbereitet. Mancher Wunsch der Kinder wird nun vielleicht etwas warten müssen. Als Karoline Gieschke ihre Töchter fragt: „Und, was meint ihr, welchen Beruf ich mir ausgesucht habe?“, da sagt die Ältere, mit damals 14 Jahren: „Na, Schornsteinfeger oder Dachdecker, du guckst ja eh immer nach oben!“
Die Tochter hatte gesehen, wohin es ihre Mutter zog, lange bevor die Mutter sich dessen ganz bewusst war. Die jüngere Tochter ist stolz auf ihre Mutter. Sie will die Baustellen auf dem Dach sehen, will mit hinauf. Ihr gefällt der neue Beruf der Mutter, auch weil er im Vogtland sehr außergewöhnlich ist für eine Frau. In der Region ist Karoline Gieschke die einzige weibliche Dachdeckerin.
Wer nichts wagt, der nicht gewinnt
Karoline Gieschke denkt schon an die Meisterschule. Vollzeit, Teilzeit: Das wird eine Geldfrage sein und auch davon abhängen, in welchem Modell noch genügend Freizeit mit den Töchtern bleibt. Hinter dem Meisterbrief lugt schon das nächste Ziel hervor: die Selbstständigkeit. Das Risiko scheut die gestandene Kauffrau nicht. „Was habe ich denn zu verlieren? Für das Finanzielle gibt es Businesspläne.“
Wer nichts wagt, der nicht gewinnt. Karoline Gieschke hat neue Lebensfreude gewonnen. Abends fällt sie „kaputt aber glücklich“ ins Bett.
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