Bodenständige Überfliegerin: Vanessa Thieltges
10. Juni 2021
Schon als Kind wollte sie Dachdeckerin und Chefin werden. Heute ist die 24-jährige Vanessa Thieltges beides im elterlichen Betrieb Thieltges-Zunker Bedachungen GmbH in Dreis in Rheinland-Pfalz, 20 Kilometer nordöstlich von Trier. Zusammen mit ihrem Vater Jürgen Thieltges leitet sie seit Mai 2020 die Geschicke des Unternehmens und der 25 Mitarbeiter. Seine Erfahrung und ihr frischer Wind ergeben eine gute Mischung, finden beide.
Dachdeckermeisterin ist zielstrebig und selbstbewusst
Hilfreich war es dafür sicher, dass sie nicht nur zielstrebig, sondern auch selbstbewusst und schlagfertig ist. „Wenn ich als Kind gefragt wurde, was ich mal werden will, war mir das völlig klar: Dachdeckerin! Erwachsene sagten dann oft ‚Das kannst du nicht, du bist doch ein Mädchen…‘“, erinnert sich Vanessa Thieltges. „Ich habe das nie verstanden, denn meine Eltern haben mir immer das Gefühl gegeben, ich kann alles erreichen, was ich möchte. Je älter ich wurde, desto weniger Lust hatte ich auf diese Diskussion. Also habe ich auf diese Frage einfach geantwortet: Ich werde Chefin. Da kam dann meistens nichts mehr.“
Die Baustellen als riesiger Spielplatz
„Ich bin in die Firma reingewachsen“, erzählt Vanessa Thieltges. „Als Kind war das Unternehmen, das mein Vater schon von meinem Opa übernommen hat, mein Spielplatz. Ich war immer mittendrin“, erinnert sie sich. „Einmal bin ich heimlich ins Baustellenfahrzeug geklettert, weil ich mit zur Baustelle wollte. Unser Mitarbeiter ist losgefahren und hatte gar nicht gemerkt, dass ich an Bord war. Unterwegs habe ich dann gefragt, auf welche Baustelle wir heute fahren. Der Arme hat den Schreck seines Lebens bekommen, als ich da plötzlich nach vorne geklettert kam“, berichtet Sie mit einem Lachen. Ihr Papa hat sie dagegen ganz bewusst mit auf die Baustellen genommen. „Natürlich habe ich da nicht gearbeitet, aber ich durfte ihm helfen, zum Beispiel beim Aufmaß. Das fand ich toll.“
Gemeinsames Studium mit Kollegen aus verschiedenen Gewerken
Gegen Ende ihrer Schulzeit suchte Vanessa Thieltges eine Möglichkeit, zu studieren und trotzdem den elterlichen Betrieb weiterzuführen. So stieß sie auf ein Angebot der Handwerkskammer (HWK) Köln. „Diese bietet gemeinsam mit der Fachhochschule (FH) des Mittelstandes Köln ein triales Studium an. Das heißt man macht eine Ausbildung in einem Handwerksbetrieb, absolviert die Meisterschule und macht an der FH noch den Bachelor im Handwerksmanagement.“
Das triale Studium umfasst am Ende vier Abschlüsse: den Gesellenbrief, den Meisterbrief, den Bachelor of Arts und den Betriebswirt nach der Handwerksordnung. „Es vermittelt betriebswirtschaftliches Wissen speziell für das Handwerk. Außerdem sind die Klassen gemischt, man lernt mit Maurern, Schreinern und vielen anderen zusammen. Das schafft ein großes Verständnis für andere Gewerke und ist auf der Baustelle wirklich hilfreich“, sagt Vanessa Thieltges.
Straffes Programm für vier Abschlüsse
Das Programm, um vier Abschlüsse zu bekommen, ist wie zu erwarten straff: „Ich habe zwei Jahre lang Montag bis Freitag meine Ausbildung bei der Firma Schröder Bedachungstechnik in Köln gemacht. Jeden zweiten Freitagabend und Samstag war ich an der Uni, zusätzlich gab es noch Online-Kurse. Danach folgte ein Jahr im elterlichen Betrieb und anschließend der HWK-Ausbilderschein, dann etwa ein Dreivierteljahr mit Klausuren für den Bachelor. Schließlich habe ich die Meisterschule besucht und nach dem Meisterbrief die Bachelorarbeit geschrieben. Und irgendwie hatte ich trotzdem noch Zeit für ein bisschen Studentenleben“, erklärt Thieltges mit einem Schmunzeln. Für die Abschlussnote 1,1 und ihr zusätzliches Engagement im trialen Studium wurde sie als Lehrling des Jahres der HWK Köln ausgezeichnet. „Das war eine tolle Anerkennung und eine schöne Wertschätzung für die Mühe und Arbeit.“
Ein Klischee und kein Ende in Sicht
Ihre eingangs erwähnte Schlagfertigkeit ist für Vanessa Thieltges auch heute noch hilfreich. „Tatsächlich scheinen sich viele Menschen nicht vorstellen zu können, dass Frauen in einem Handwerksberuf glücklich sind“, berichtet sie. „Oft kommt die Frage, ob ich keinen Bruder habe. Nach dem Motto `das arme Kind muss das machen‘. Nein, ich will das machen.“ Übrigens ist diese etwas antiquiert wirkende Vorstellung von Frauen im Handwerk keine Frage von Alter oder Geschlecht. „Sogar eher junge Frauen stellen mir solche Fragen. Die meinen das nicht böse, das passt nur einfach nicht in ihre Vorstellung“, so Vanessa Thieltges. Die meisten akzeptierten sie dann aber ganz schnell, wenn sie merkten, dass sie Ahnung vom Fach habe, und freuten sich über die junge Frau im vermeintlichen Männerberuf.
Ein Berufsleben lang in einem Betrieb
Viel Akzeptanz erfährt Vanessa Thieltges, die Mitglied der Dachdeckermädelz ist, auch von ihren Kollegen und Mitarbeitern. „Das war vor allem anfangs ein bisschen gewöhnungsbedürftig für manche, ich bin schließlich die einzige Kollegin im Betrieb, die auch mit aufs Dach geht. Und gleichzeitig bin ich Juniorchefin. Doch ich erfahre viel Unterstützung der Mitarbeiter. Wir haben im gesamten Betrieb ein lockeres, freundschaftliches und oft familiäres Verhältnis untereinander. Kein Wunder, viele unserer Mitarbeiter sind schließlich schon ihr gesamtes Berufsleben bei uns.“ Eine Tatsache, die Vanessa Thieltges sehr schätzt: „Offensichtlich hat mein Papa da einiges richtig gemacht. Darum bin ich sehr froh, dass ich den Betrieb noch einige Zeit mit ihm zusammen führen und von ihm lernen kann.“
Vanessa Thieltges bildet bereits selbst die Lehrlinge aus
Irgendwann wird sich der Vater zur Ruhe setzen. Vanessa Thieltges hat auch dafür schon einen Plan: „Mein Ziel ist es, die Mitarbeiterzahl konstant zu halten. Dafür bilden wir auch aus und stellen nach Möglichkeit jedes Jahr ein bis zwei junge Leute ein. Dieses Jahr haben wir aber leider noch keine Bewerber.“ Aktuell hat die Firma Thieltges-Zunker, Mitgliedsbetrieb der DEG Alles für das Dach eG, fünf Azubis. Zwar ist die junge Frau selbst oft nicht sehr viel älter als ihre Lehrlinge, doch als Meisterin und Ausbilderin bildet sie die Handwerker von morgen aus: „Mir macht das große Freude. Eine Ausbildung verändert die Menschen im Positiven, sie lernen Verantwortung, Selbstbewusstsein, Reife. Es ist sehr schön zu sehen, wie ein junger Mensch wächst.“
Sie interessieren sich für Frauen im Handwerk? Dann lesen Sie unsere Story über Jana Görgen, die besondere Herausforderungen liebt.