Rocket – Rekord-Holzhochhaus mit tragender Holzstruktur
17. Januar 2023
Das Areal Lokstadt in der schweizerischen Stadt Winterthur wird 2026 Heimat eines Giganten aus Holz werden. Im Zentrum des einstigen Industriegebietes soll ein etwa 100 Meter hohes Holzhochhaus entstehen. Mit seinen 32 Stockwerken wird es dann das weltweit höchste Wohngebäude mit einer tragenden Struktur aus Holz sein, 13 Meter höher als das bislang höchste Holzhochhaus The Ascent in den USA.
Der neue Holzriese soll Rocket heißen – ein Name, der mit der Geschichte von Lokstadt eng verbunden ist. Einst wurden in diesem Viertel in den Werkhallen eines weltweit bekannten Unternehmens Lokomotiven produziert. Von 1870 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts rollten hier Zugmaschinen mit Namen wie Krokodil, Tigerli, Elefant und eben Rocket durch die Tore.
Holz- anstatt Stahlbetonkern
Das dänische Architekturbüro Schmidt Hammer Lassen aus Kopenhagen entwarf den Gebäudekomplex gemeinsam mit der Cometti Truffer Hodel Architects AG aus Luzern. Sie setzten sich im Zuge eines internationalen Architekturwettbewerbs durch. Bauen wird es der Schweizer Bau- und Ingenieurskonzern Implenia. Die Konstruktionsweise wurde von Implenia gemeinsam mit der ETH Zürich und dem Ingenieurbüro WaltGalmarini eigens für Holzhochhäuser entwickelt. Kern des Systems ist, dass der Stahlbetonkern durch Holz ersetzt wird. Hierdurch weist der einzelne Träger ein geringeres Gewicht auf, was die statische Last verringert.
Holzbetonverbunddecken als Ass im Ärmel
Laut Ina Invest kommen abseits des tragenden Kerns innovative Holzbetonverbunddecken zum Einsatz, die Spannweiten von bis zu neun Metern erlauben. Diese sind wesentlich leichter als eine herkömmliche Beton-Flachdecke, was auch hier Gewicht aus der Struktur nimmt. Aufgrund dieser Kombination von Lösungen, die Beton und Stahl ersetzen, ist eine tragende Struktur aus Holz umsetzbar.
Einstufung als reines Holzhochhaus
Verantwortlich für die Definition von Gebäuden und ihres jeweiligen Platzes auf der Rangliste nach Höhe ist das Council on Tall Buildings and Urban Habitat (CTBUH). Es werden zur Vergleichbarkeit unterschiedliche Materialkategorien definiert. Diese ergeben sich als Antwort auf die Frage: „Was trägt die Lasten?“ Weil beim Holzhochhaus Rocket sowohl die Vertikal- als auch die Horizontallasten ausschließlich vom Holzrahmentragwerk in den Baugrund abgeleitet werden, hat das Rocket eine sogenannte „timber structure“.
Sparsamer Einsatz von Beton
Denn beispielsweise Beton wird bei „Rocket & Tigerli“ eben nur sparsam und nicht in der tragenden Struktur eingesetzt. So kommt die Einstufung als reines Holzhaus zustande, obschon Beton durchaus im Gebäude zu finden ist. Die CTBUH listet auch weitere Kategorien auf, zum Beispiel die einer Kombination von Holz und Beton als tragende Baustoffe. Hierunter fällt das bereits erwähnte The Ascent in Milwaukee.
Geschichte und Holz: egal wohin der Blick in Lokstadt fällt
Der Baustoff Holz und Verweise auf die Geschichte finden sich auch in weiteren Bauten des Lokstadt-Areals. Die Namen historischer Lokomotiven sind allgegenwärtig und insgesamt werden für den Umbau des Viertels 25 000 Kubikmeter Holz benötigt. Und das ist nur die Holzmenge für die Tragstruktur der Wände, Decken und Dächer. Bodenbeläge und Fensterrahmen kommen noch hinzu. Das Holz soll laut den Projektverantwortlichen aus der Schweiz und dem nahen Ausland kommen, um die Transportwege möglichst kurz zu halten.
Holz: Baustoff der Zukunft
Der Austausch von Beton oder Stahl durch Holz ist ein aus mehreren Gründen lohnendes Ziel. Holz bietet als nachwachsender Rohstoff nicht nur die Perspektive, enorme Mengen an Kohlenstoffdioxid in den Städten zu binden. Sondern spätestens seit dem starken Anstieg der Preise für fossile Energieträger sind die in der Herstellung ressourcenhungrigen Baustoffe Beton und Stahl als Kernmaterial des Städtebaus Auslaufmodelle. Der Trend hin zum mehrgeschossigen Holzbau hat sich auch deshalb in den vergangenen Jahren verstetigt.
Serielle Vorfertigung
Ein weiteres Plus des Holzbaus ist die Möglichkeit zur seriellen Vorfertigung fernab der Baustelle. Diese wird auch bei „Rocket“ zum Einsatz kommen, wodurch das Holzhochhaus in Lokstadt Stück für Stück aus ganzen Segmenten an Bauteilen zusammengesetzt werden kann. Ein Beispiel hierfür wäre ein Wandelement mitsamt Aussparungen für Fenster und Türen als Teil des Großbausatzes „Holzhochhaus Rocket“.
Im Vergleich zur Bauweise mit Stahlbeton bietet dies verschiedene Vorteile. Der Aufbau ist zum einen vor Ort schneller umsetzbar, da beispielsweise bei der tragenden Struktur die bei Beton notwendige Aushärtezeit wegfällt. Zum anderen sind weniger Arbeitsschritte unter Einfluss der Witterung notwendig.
„Rocket & Tigerli“: Holzsockelbau und Holzhochhaus
Dabei ist Rocket wortwörtlich nur die Spitze eines Gebäudekomplexes, den es gemeinsam mit dem Sockelbau Tigerli bildet. Dieses siebengeschossige Bauwerk bildet quasi den verbreiterten Fuß des Hochhauses. Dieser soll vor allem preisgünstigen Wohnraum für Studenten bieten.
Für die über 200 Wohnungen mit 1,5 bis 5,5 Zimmern visieren die Projektentwickler eine größere preisliche Bandbreite an. Zusätzlich zum Wohnraum sind in dem Komplex Einzelhandelsflächen, ein Restaurant, ein Hotel mit 140 Zimmern sowie eine Skybar geplant. Äußerlich soll die Optik die Vergangenheit widerspiegeln: Fliesen aus rötlichem und gelbem Terrakotta sollen an die Backsteinfassaden der alten Industriebauten erinnern. Von Tigerli wird es einen Durchgang zu den denkmalgeschützten Teilen der alten Lokomotivfabrik geben, um die Vergangenheit mit dem Neuen auch räumlich zu verbinden.
Der Spatenstich für Rocket wird laut dem zuständigen Immobilienentwickler Ina Invest frühestens 2024 erfolgen. Mit der Fertigstellung wird derzeit für 2026 gerechnet. Die Baustelle für Tigerli ist bereits eingerichtet. Für die Obergeschosse des Gebäudekomplexes „Rocket & Tigerli“ werden 8000 Kubikmeter Holz verbaut werden. Der Holzanteil soll bei Rocket rund 80 Prozent betragen.
Entscheid durch Volksabstimmung
Das Ensemble am prominentesten öffentlichen Platz der Lokstadt, dem Dialogplatz, setzt den Schlusspunkt unter die Planung des Areals. Diese ist 2015 in einer Volksabstimmung beschlossen worden. Es wurde als Ziel gesetzt, den Wandel von einer Industriebrache hin zu einem nachhaltigen Vorzeigequartier zu schaffen. Nach Fertigstellung aller Gebäude soll das Areal insgesamt 120 000 Quadratmeter Nutzfläche bieten. Alle Gebäude des Areals zusammengenommen werden 750 Wohnungen zur Verfügung stellen. 30 Prozent der Wohnflächen sind dabei dem preisgünstigen Segment vorbehalten.
Rocket alleine steht hierbei nach den Plänen für mehr als 30 000 Quadratmeter. Und es könnte aus baulicher Sicht sogar noch aufgestockt werden. Doch die Stadt Winterthur hat in einem Leitfaden nicht nur festgelegt, wo Hochhäuser stehen sollen, sondern ebenfalls, wie hoch sie gebaut werden dürfen – maximal 100 Meter.
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