Kasseler Hagel-Katastrophe: Dachdecker Peter Bärwald im Noteinsatz
20. Juli 2023
Schon Tage voraus wusste Deutschland, dass Gewitter kommen. Einen Tag vorher zeichnete sich ab, in welchen Regionen etwas passieren würde. Stunden zuvor am 22. Juni und zuletzt noch einmal Minuten davor warnte der Deutsche Wetterdienst vor schweren Unwettern. Michael Weinreich in Kassel-Harleshausen dachte um 17 Uhr, als es losging, dass auch dies vorübergehen wird.
40 Millimeter dicke Hagelkörner zerstören Flachdach
Das hofften auch alle anderen Menschen in der nordhessischen Metropole, die sich tatsächlich gar nicht schützen konnten, und irgendwie kam es auch so: es ging vorüber. Nur war für viele die Welt zu Hause danach nicht mehr so wie zuvor. Keine halbe Stunde hat der Spuk gedauert, bei dem 40 Millimeter dicke Hagelkörner die Kunststofffolien auf dem Flachdach der Weinreichs durchschlugen. Die Bitumenbahnen auf dem Vordach haben hingegen gehalten, ohne Spuren zu zeigen. Dachdecker Peter Bärwald ist sich sicher, „solch große Hagelkörner hat es in Kassel noch nicht gegeben und schon gar nicht in dieser Menge mit so viel Regen vorweg und hinterher.“ Die Folgen des Klimawandels werden auch Auswirkungen auf die zukünftige Wahl von Baustoffen haben.
Wassermassen bahnen sich den Weg vom Dach bis zum Keller
Die wie ein Schweizer Käse durchlöcherte Dachhaut stellte kein Hindernis mehr da für die Wassermassen. Sie durchdrangen die Dachkonstruktion, saugten sich in den Balken fest, flossen in die Zimmerdecken, bahnten sich den Weg zu den Außenwänden, wo zusätzlich Wasser durch beschädigte Blechprofile eindrang. Durch die Wohnungen der Mieter, die Zwischendecken der Etagen und vor allem die Wände hinab erreichte das Wasser schließlich den Keller, wo es sich sammelte und „zum Stehen“ kam. Das Ergebnis des Schreckens: Drei Etagen komplett durchnässt, Wasser in allen Schränken und Möbeln, der Keller als Auffangbecken.
Notversorgung mit Teichfolie aus Mannheim
Noch am Abend besorgte der in Mannheim lebende Sohn der Familie Teichfolie. Im Baumarkt kaufte er den gesamten Vorrat auf. In Mannheim war von Katastrophenwetter schließlich nichts zu sehen, und wer sollte einen 100 Quadratmeter großen Teich bauen wollen? Noch in der Nacht kam die Plane aufs Dach in Kassel und ein Hilferuf ging bei Peter Bärwald ein.
750 Notrufe gingen bei Peter Bärwald ein
Es war einer von inzwischen über 750 Notrufen. „Es hört noch immer nicht auf, berichtet der Fuldataler Dachdeckermeister Peter Bärwald: „Niemanden von den Hilfesuchenden will ich im Stich lassen. Zu 80 Prozent sind es Kunden, bei denen wir irgendwann schon einmal tätig waren.“ Neben der mangelnden Zeit und den fehlenden Fachkräften sind Lieferschwierigkeiten beim Material gerade das größte Problem. Dachfenster und Wohndachfenster oder Lichtkuppeln könne der Bedachungsfachhandel so schnell und in den plötzlich erforderlichen Mengen trotz Lagerhaltung nicht liefern.
Auch der Gerüstbauer ist gleich zur Stelle
Das Angebot erstellte Dachdeckermeister Peter Bärwald in der Nacht von Freitag auf Samstag. Der Gerüstbauer, Gerüstbau Wagner aus Ahnatal ist als Geschäftspartner in dieser Situation gleich zur Stelle gewesen. Unter langjährigen geschäftlichen Weggefährten hilft man sich zuerst. „Treue zahlt sich aus“, sagt Bärwald. Bereits am Dienstag, also fünf Tage nach dem Unwetter stand das Gerüst, ohne das es nicht geht. Bis dahin mussten die Weinreichs nach jedem noch so geringen Regen Patrouillengänge auf dem eigenen Dach absolvieren.
Das Dachdecker-Team ist zwei Wochen im Dauereinsatz
„Die Bauherren und Auftraggeber aller bestehenden Baustellen und solcher, die eigentlich jetzt Baubeginn gehabt hätten, hatten vollstes Verständnis, dass nach solch einer Katastrophe ihre Aufträge zurückstehen“, freut sich Bärwald über die große Solidarität in der Region. „Auch alle Mitarbeiter haben mitgespielt. Von Donnerstagnacht bis Sonntagabend haben wir immer bis zur anbrechenden Dunkelheit durchgearbeitet und von Montagmorgen bis Samstagabend ging es mit Überstunden weiter“, berichtet Bärwald. „Erst der übernächste Sonntag war der erste freie Tag. Das geht nur, wenn der Beruf auch eine Berufung ist. Eine große Portion Liebe zum Job gehört dazu“, erläutert der Dachdeckermeister, warum sich sein Team so engagiert hat. Nur deshalb war es möglich, bereits mehr als die Hälfte der 700 Notrufe so weit zu bearbeiten, dass zumindest eine Notversorgung gelang.
Familie muss ausziehen – Komplettsanierung steht an
Für Familie Weinreich ist auf einen Schlag alles anders geworden. Die beiden Mieter sind bereits ausgezogen und in ein paar Tagen kommt der Möbelwagen, holt das verschont gebliebene Hab und Gut und bringt es in eine vorübergehende Wohnung. Mit ein bisschen Glück können sie vor Weihnachten zurückkehren. Bis dahin darf aber nichts schief gehen.
Bis auf den Dachstuhl wird die gesamte Dachkonstruktion jetzt entfernt und es gibt ein komplett neues Dach. Diesmal aus Bitumen, in der Hoffnung, dass sich solch eine Katastrophe nicht wiederholt. Inzwischen kriecht der Schimmel an den Haus- und Innenwänden empor, denn das Wasser steht unter dem Estrich und sucht sich seinen Weg nach oben durch Mauerwerk und Putz. Sogar der muss ab! Die Feuchtigkeit kann in dieser Menge gar nicht verdunsten, auch weil jetzt Teichfolie auf dem Dach liegt und von unten absperrt. Das gesamte Haus ist renovierungsbedürftig.
Materiallager: Nachbar stellt Carport zur Verfügung
Den Anfang muss der Dachdecker machen, damit kein weiterer Schaden entsteht und nicht weiteres Regenwasser den Weg ins Gemäuer findet. Der Betrieb Bärwald & Zinn GmbH, Mitglied der DEG Dach-Fassade-Holz eG, freut sich, dass die Nachbarn Verständnis haben und helfen. Im Haus unmittelbar daneben können die Dachdecker vorübergehend den Carport nutzen. Nur so finden die bereits gelieferten Dachpappe-Rollen und der Container zum Abtransport des Schutts überhaupt Platz.
Dachdeckerbetriebe leisten Außergewöhnliches
Jetzt – Stunden später – da der Text fertig ist, rieche ich noch immer den muffigen Stock-Geruch in meiner Kleidung. Er beißt sich förmlich in die Nasenschleimhaut und kribbelt. Dabei bin ich im Haus selbst gar nicht gewesen. Allein die Ausdünstungen auf dem Dach für 15 Minuten haben gereicht. Dank Dachdeckermeister Bärwald und Handwerkern aus anderen Gewerken wird‘s wieder ein Ort zum Leben. Insgesamt leisten die Betriebe der Dachdecker-Innung Kassel gerade Außergewöhnliches für die von der Hagel-Katastrophe betroffenen Menschen.
Sie interessieren sich für spannende Storys aus dem Dachhandwerk. Dann lesen Sie unsere Geschichte über die Zimmerei Rathje, welche die 4-Tage-Woche eingeführt hat.