Dachdecker rettet Turmspitze mit goldener Kugel und Kreuz
2. Februar 2021
Februar 2020: Zwei Tage, bevor die WHO den Namen COVID-19 für eine neue Krankheit vorschlug, schlug Sabine zu. Dieses Sturmtief verursachte auch in Bayern enorme Schäden. Und Pfarrer Stephan Rauscher von der St. Johannes Baptist-Kirche im oberbayerischen Attenkirchen konnte von Glück sagen, dass nach Sabine das Team von Mertl-Bedachungen kam.
Turmspitze neigte sich bedenklich nach Osten
Der 30-jährige Dachdeckermeister und Spengler Andreas Mertl war nach dem Sturmtief Sabine im Notfalleinsatz für betroffene Hausbesitzer. Und zur gleichen Zeit entdeckte die Kirchenverwaltung die in Schieflage geratene Spitze des 30 Meter hohen Turms der barocken Kirche aus dem 18. Jahrhundert. Nicht mehr senkrecht nach oben, sondern dem Winddruck folgend neigte sie sich bedenklich nach Osten.
Historische Befestigung der Turmspitze mit dem Autokran erkunden
Zunächst jedoch galt es, dem Geheimnis der Befestigung der Turmspitze aus dem 19. Jahrhundert auf den Grund zu gehen. Eine Inspektion im Turminneren scheiterte aufgrund der schlanken Turmform, in der kein Mensch bis nach oben klettern konnte. Was waren die Alternativen? „Den Turm einzurüsten und mit einem Gerüstkranz rund um die Turmspitze zu versehen, hätte den Etat der Kirchengemeinde mit geschätzten 45.000 Euro bei Weitem überfordert“, so Andreas Mertl.
Sein Vorschlag war daher, anstatt eines Gerüsts eine Hebebühne und einen Autokran für die Inspektion einzusetzen. Zudem offenbarte ein Flug mit der hauseigenen Drohne des Dachdeckerbetriebs zusätzliche Schäden an den Blitzschutzeinrichtungen des Turms. Auch hier hatte Sabine ganze Arbeit geleistet.
Rückbau der Turmspitze mit Rostlöser und körperlicher Kraft
Im Juli 2020 wurde die gesamte metallene Turmspitze zurückgebaut. Für die beiden Dachdecker auf der Hebebühne war dies eine Lehrstunde in Sachen Befestigungstechnik im 19. Jahrhundert. Die Kugel und das Kreuz saßen auf einem Holzpfahl, der tief bis in den Turm hereinreichte und mit einer Eisenkonstruktion verschraubt und verzapft war. Der 300-Kilogramm-Zugtest mit dem Kran führte zu keinem Ergebnis.
Also war Handarbeit angesagt: Mertls Männer mussten die Bördelung der beiden Kugelhälften mühsam öffnen, um mehr zu sehen. Das Ergebnis: Der „eiserne Halter“ war durch den Winddruck gebrochen. Mit Rostlöser und zum Teil auch roher Gewalt gelang es den Dachdeckern endlich, die 70 Kilogramm schwere Turmspitze zu lösen.
Jetzt waren Maler und Schlosser gefragt. Der gegabelte Metallhalter wurde nachgebaut und für die Ewigkeit feuerverzinkt. Und Kugel und Kreuz wurden von einem Maler restauriert und neu vergoldet.
Pfarrer platziert eine Zeitkapsel im Inneren der Turmspitze
An einem frostigen und verschneiten 4. Dezember 2020 konnte die neue Turmspitze wieder montiert werden. Erneut kam eine Hebebühne zum Einsatz. Dabei waren noch zusätzlich letzte Arbeiten an der Schiefereindeckung erfolgt. Dann kam der große Augenblick – auch für Pfarrer Stephan Rauscher. Er ließ es sich nicht nehmen, vor dem Aufsetzen des Kreuzes eine Zeitkapsel mit aktuellen Dokumenten für nachfolgende Generationen in der neuen „Krönung“ des Kirchturms zu platzieren.
TV-Beitrag über das spektakuläre Dachprojekt
„Der Herr Pfarrer erwies sich als völlig schwindelfrei“, stellte Andreas Mertl nach dem Einsatz in luftiger Höhe erstaunt fest. Begleitet wurde die spektakuläre „Wiedergeburt“ der Kirchturmspitze durch ein Team des Bayerischen Fernsehens, die in der Abendschau darüber ausführlich berichteten.
Jedes Dach ist ein Unikat
Für Andreas Mertl war das Projekt Turmspitze „eigentlich ein fast ganz normaler Auftrag“, wie er schmunzelnd sagt. „Allerdings sind Kirchturmspitzen eines der wenigen Dinge, die es nicht beim Dachdecker-Einkauf Süd gibt“, wo der Betrieb auch Mitglied ist. Der Alltag seines 10-köpfigen Teams spielt sich sonst eher bei Sanierungen von Privathäusern ab. Langweilig findet er das ganz und gar nicht. „Jedes Dach ist ein Unikat und damit eine neue Herausforderung“.
Lieber Dachdecker mit Auszeichnungen als Studierter werden
War das der Grund, weshalb er Dachdecker geworden ist oder hatte sein Vater Josef ihn dazu überredet? „Nein, überhaupt nicht“, erinnert sich Andreas Mertl. „Eigentlich habe ich mich auf der Schulbank ganz wohl gefühlt und hätte fast studiert.“ Aber dann besann er sich noch rechtzeitig: „Studierte gibt’s genug – ich wollte lieber etwas Praktisches machen.“
So absolvierte er zunächst die Spenglerausbildung, die er 2012 als Zweitbester der Innung abschloss. Und weiter ging es nach ganz oben. Für seine Leistungen im Meisterkurs in der bayerischen Dachdeckerschmiede Waldkirchen erhielt er 2014 den Meisterpreis der bayerischen Staatsregierung. „Und außerdem habe ich gleich noch den Betriebswirt im Handwerk gemacht“, so Mertl fast beiläufig. Dass er als Bester von 373 Absolventen dann noch den Förderpreis des Genossenschaftsverbands Bayern e. V. bekam, muss man ihm schon fast aus der Nase ziehen.
Zum Nachwuchs hingehen: Coole Storys auf Instagram
Ist Andreas Mertl damit automatisch ein Idol für den potenziellen Nachwuchs? Denn Nachwuchssorgen plagen seinen Betrieb nicht. „Nein, das hat nichts mit Idol zu tun“, stellt er richtig. „Du darfst nicht warten, bis der Nachwuchs kommt – sondern musst zum Nachwuchs hingehen.“ Und das macht Andreas Mertl mit seinem Innungsbetrieb sehr konsequent durch seine intensiven Auftritte auf allen Social-Media-Kanälen. Zum Beispiel auf Instagram mit der Story vom Goldenen Kreuz ganz oben.
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