
Schule des Lebens: Dachdecker Felix Thiele auf der Walz
11. März 2025
Felix Thiele (27) aus Manheim-Alt im Rhein-Erft-Kreis, bis Mai noch Meisterschüler am BBZ in Mayen, ist von Mai 2018 bis November 2022 auf der Walz durch 23 Länder gewandert, 55 Monate lang. Für ihn eine Erfahrung großer Freiheit. Die Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, die Regeln und das Netzwerk der Wandergesellen haben ihm geholfen, sich von der Heimat zu lösen und nach Jahren des Umherziehens bereichert in den elterlichen Betrieb zurückzukehren.
Der Traum vom großen Abenteuer
Mit 15 Jahren traf Felix Thiele, Sohn eines selbständigen Zimmerermeisters, zufällig in Köln auf einen Wandergesellen. „Ich habe ihm ein Essen ausgegeben und mir von der Walz erzählen lassen. Das klang so nach Abenteuer, das wollte ich auch erleben.“ Der Realschüler hat da schon öfter als Aushilfe auf Baustellen gearbeitet und beschlossen, Dachdecker zu werden. Auf die Realschule folgte die Lehre in einem kleinen Betrieb. Mit 18 Jahren wurde er freigesprochen, doch die Walz musste noch warten.

Wohnhaus der Eltern gebaut
Thieles Heimatort liegt in der Abbauzone des Braunkohle-Tagebaus und wird nach und nach zerstört. 2016 steht sein Geburtshaus noch, aber bald brauchen die Eltern ein neues Haus. Die Entschädigung reicht nur bei viel Eigenleistung für einen gleichwertigen Neubau. Felix Thiele handelt mit seinem Vater Georg Zens aus, wie er später die Zimmerei Zens übernehmen und vorher auf die Walz gehen kann. Als Angestellter der Zimmerei baut er in den folgenden zwei Jahren das neue Haus. Bei Felix Thiele klingt das selbstverständlich: „Befreundete Meister anderer Gewerke haben mir gezeigt, wie‘s geht. Ich habe gemauert, gezimmert, das Dach gedeckt, verputzt und den Innenausbau bis auf so heikle Sachen wie den Strom gemacht.“
Der Gesellenverein
Auf der Schulung eines Herstellers lernt Felix Thiele dann einen Altgesellen der Kölner „Vereinigung der rechtschaffenen fremden Zimmerer- und Schieferdeckergesellen“ kennen. Er besucht mehrere Treffen in deren „Herberge und Krug“, dem „Zollstocker Hof“. Mitglied der Vereinigung wird man erst und auf Lebenszeit, wenn die vorgeschriebenen drei Jahre und ein Tag der Walz absolviert sind. Als das Haus der Eltern fertig ist, kann es 2018 endlich losgehen.
Goldener Ohrring zum Start der Walz
„Walz geht auch ganz ohne Alkohol. Meist aber ist am Anfang und Ende Alkohol im Spiel. Da wird groß gefeiert“, erinnert sich Felix Thiele und lacht. Im Zollstocker Hof wird er unter großem Hallo am Ohrläppchen auf der Theke festgenagelt und muss sich mit ein paar Stiefeln Bier freikaufen. „Dann wird der goldene Ohrring eingesetzt. Früher war der ein Notgeld für die eigene Beerdigung. Heute ist er ein Symbol der Verantwortung für das eigene Leben bis in den Tod“, erklärt Felix Thiele.

Sich einlassen auf das Abenteuer Leben
Begleitet von einem erfahrenen „Fremdgeschriebenen“ geht es dann mit fünf Euro und ohne Handy in der Tasche los. Zentrale Erfahrung der Walz ist, wie Angst vor Unsicherheit und Abhängigkeit sich in Zuversicht und das Erleben von Freiheit wandeln. Die Arbeit bringt das Reisegeld, die eigene Rechtschaffenheit sorgt für innere Ausrichtung und öffnet Türen wie Herzen. Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit werden zum Netz, das einen trägt.

Die Arbeit als Tor zur Welt
Nur ein Teil der Reisezeit muss zwingend mit Arbeit verbracht werden. „Nur wenn man auf interessante Arbeit oder Leute trifft, arbeitet man“, stellt Felix Thiele klar. Mehr als sechs Monate darf keine Anstellung dauernd. „Ich habe so im Schnitt die Hälfte der Zeit gearbeitet und bin ansonsten gereist.“ Auf Schusters Rappen oder per Anhalter geht es durch Europa. Nach Japan bringt ihn ein vom letzten Arbeitgeber bezahlter Flug.

Faszination Afrika
Genauso kommt Felix Thiele nach Afrika und ist begeistert „Die Lebens- und Denkweise dort ist ein bisschen Wild West. Viel mehr als bei uns ist erlaubt, viel weniger reglementiert.“ In Namibia arbeitet er 2021 einige Monate bei einem auf Bogenbau spezialisierten Betrieb. „Die Technik, Holz zu Bögen zu leimen, ist sehr aufwendig, eine eigene Meisterschaft und in Deutschland kaum bezahlbar.“

In Sambia sucht einige Monate später eine Schule für Handwerker einen Allrounder im Baugewerbe. Felix Thiele ist ihr Mann. „Ich habe Maurern, Installateuren und Elektrikern Allgemeinwissen im Bauwesen beigebracht.“ Die Männer hoffen, durch das Zertifikat bessere Arbeit zu finden. „Viele von ihnen hatten als Kinder auf der Straße nebenbei fünf Sprachen gelernt. Aber dreidimensional zu denken, hat ihnen erstaunlicher Weise große Probleme bereitet.“

Zu Fuß die Alpen überquert
Wieder in Deutschland wagte Felix Thiele übermütig eine Alpenüberquerung. Er wanderte von Göschenen über Andermatt zum Pass, übernachtete kostenlos in einem Berghospiz. Am nächsten Tag ging es über Airolo hinunter zum Lago Maggiore. „Oben waren es zwölf, unten dann 30 Grad. Bei Bellinzona wurde ich ohnmächtig und bin erst im Spital wieder erwacht. Meine Blutwerte waren komisch, mein Englisch klang holperig. Die dachten, ich sei betrunken. Nach einer Nacht und einem Gespräch am Morgen mit einem deutschen Pfleger hat sich alles geklärt. Auch, dass es verrückt ist, ohne Vorbereitung die Alpen zu überqueren.“
Ein köstliches Lebensgefühl
„Die Wanderschaft ist die unglaublichste Zeit im Leben. Man ist sehr frei, lebt in den Tag hinein, macht nur Interessantes, hat keine Sorgen, nur ein köstliches Lebensgefühl“, schwärmt der Meisterschüler, noch über ein Jahr nach der Rückkehr. „Man befreit sich auch von der eigenen Meinungsblase, lernt zuzuhören, wird ruhiger. Ich wohnte in sehr traditionellen Familien und in Berlin in einer Kommune. Ich habe gelernt, anzuerkennen, dass andere anders denken und erleben. Ich habe auch gelernt, aus mir rauszukommen und von mir zu erzählen“, berichtet Felix Thiele

Die „Heimgeherei“ rundet die Reise ab
Die deutsche Walz kann süchtig machen, sie ist romantisch-grenzenlos. „Manche kriegen die Kurve zur Sesshaftigkeit nicht mehr“, gibt Felix Thiele zu bedenken. Er selbst hat nach vier Jahren gespürt: „Es könnte immer so weiter gehen. Wenn ich zurückkehren will, muss das bald geschehen.“ Da setzt er sich eine Grenze: noch ein halbes Jahr. „Es war einfach Zeit.“

Monate vor dem Ende der Walz schickt Thiele an die Herbergen seiner Vereinigung Einladungen mit Treff- und Zeitpunkt seiner „Heimgeherei“. Vom Rand der 50 Kilometer Bannzone aus geht es dabei eine Woche lang spiralförmig näher an den Heimatort. Mit Felix Thiele gehen am Ende 20 reisende Wandergesellen und 15 Einheimische weinselig im Spinnermarsch, zick zack, durchs Gelände. In vielen Erzählrunden wird der Kreis der Reise geschlossen. Trunken vor Glück und Wein legt Felix Thiele die letzten 50 Meter nach Hause, zu Eltern, Freunden und Nachbarn, allein zurück. „Ich war bei der Ankunft alles andere als nüchtern“, erinnert sich Felix Thiele lachend. Das Betreten des Heimatortes besiegelte endgültig das Ende des Abenteuers Walz. Was dann kam, nennt er eine „Mörder-Party“.

Nach der Rückkehr direkt auf die Meisterschule
Die Rückkehr in den Alltag war nicht ohne. „Der Wechsel vom Leben in den Tag zu den durchgeplanten Wochen eines deutschen Handwerkers ist eine 180 Grad Kehrtwende. Das ist ein Schock“, findet Felix Thiele. Er ging die Rückkehr gleich mit der Vollzeitausbildung zum Dachdeckermeister in Mayen entschlossen an. Im Mai schon ist dort Prüfungszeit. Wenn alles klappt, wird Felix Thiele danach die Zimmerei des Vaters übernehmen. Der will seinen Sohn noch zwei Jahre im Betrieb begleiten, damit Felix Thiele sich zum Restaurator im Holzbau weiterbilden kann. In Sachen Walz wird er dann als „Einheimischer“ selbst Anlaufpunkt für jüngere Wandergesellen auf der Suche nach interessanter Arbeit bei einem coolen Chef.
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