Einer muss sich regelmäßig um den Azubi kümmern
13. Oktober 2022
Sven Mohr (59 Jahre alt) ist der Bundesvorsitzende des Bundesverbandes der Lehrkräfte für Berufsbildung (BvLB) sowie Schulleiter und Geschäftsführer am Regionalen Berufsbildungszentrum Flensburg, wo unter anderem auch Zimmerer und andere Bauberufe unterrichtet werden. Er spricht im Interview darüber, warum Azubis durch die Prüfung fallen oder die Lehre abbrechen und was die Chefs der Betriebe dagegen tun können.
Herr Mohr, trägt der Ausbildungsbetrieb Mitschuld, wenn ein Azubi durch die Gesellenprüfung fällt?
Ja, er ist wahrscheinlich ein Teil des Problems. Die Gesellenprüfung nicht zu bestehen, ist ein persönlicher Tiefschlag für den Azubi – und sollte auch Fragen beim Betrieb aufwerfen. Denn dieses Scheitern ist nur der Tiefpunkt einer individuellen Geschichte. Davor muss es Anzeichen gegeben haben, und es ist Aufgabe eines Betriebes, diese gemeinsam mit den Lehrkräften der Berufsschule und der überbetrieblichen Ausbildung zu erkennen – je früher, desto besser, um gemeinsam mit dem Azubi gegenzusteuern. Kein junger Mensch will ja bei seiner Berufsausbildung scheitern – und wir brauchen Fachkräfte.
Es sind aber auch Arbeitskräfte während der Ausbildung, die der Betrieb braucht…
Ja, natürlich, aber in erster Linie geht es um die Ausbildung, damit der Azubi in Zukunft weit wertvoller wird, als nur ein Bauhelfer zu sein. Jeder Lehrling muss dafür selbst was mitbringen und sich auch einbringen – beim Arbeiten und auch beim Lernen. Aber das hat Grenzen und vor allem bei Jugendlichen können diese schnell erreicht sein – und zwar auch ganz ohne Mitschuld des Azubis oder des Ausbildungsbetriebes. Und ein Mensch zwischen 17 und 20 ist ein Jugendlicher, kein Erwachsener, auch wenn er volljährig ist.
Sie meinen Rahmenbedingungen der Gesellschaft?
Ja, es gibt etliche Bereiche, in denen Auszubildende schlechter gestellt werden als zum Beispiel Studierende. Und das kann zu Überforderung führen. Und auch wir sind finanziell nicht auf Rosen gebettet, teils haben wir so viele Problemfälle zugleich in unseren Klassen, dass wir nicht immer hinterher kommen, die von uns aus mit den Betrieben abzuklären.
Wo hakt es hier vonseiten der Gesellschaft?
Nur weil eine Ausbildung vergütet wird und ein reguläres Studium nicht, heißt das nicht, dass der Auszubildende keine finanziellen Probleme hat, ganz im Gegenteil. Er hat zum Beispiel genauso Probleme bei der Wohnungsfindung, wenn nicht sogar noch mehr. So gibt es in jeder Unistadt Wohnheime für Studierende, für Auszubildende meist nicht. Und wenn der Azubi noch bei seinen Eltern wohnt, hat er mitunter einen langen Anfahrtsweg vor sich. Und lebt er mit 16 oder 17 auf einem Internat, ist er damit beschäftigt klarzukommen, erstmals lange von zu Hause weg zu sein. Und wenn all diese kleinen Krisen überwunden sind, ist die Ausbildung vielleicht schon gescheitert.
Wie kann ein Betrieb helfen?
Aller Anfang ist die Wahrnehmung des Azubis als Mensch, der lernt und Hilfe dabei braucht. Er darf nicht das Gefühl bekommen, eine Last für diejenigen zu sein, die ihn mitnehmen. Er soll natürlich helfen, aber er ist ein besonderes Element im Team. Es muss im Betrieb jemanden geben, der regelmäßig mit dem Azubi spricht und fragt, wie es ihm geht. Einer, der dem Lehrling außer der Reihe Feedback gibt und ihn auf Dinge, die aufgefallen sind, anspricht.
Das muss nicht der Chef sein, oft ist es sogar besser, wenn das ein Geselle macht. Der braucht auch keine Papiere oder Weiterbildungen dafür, der braucht nur Empathie und Fingerspitzengefühl für Hilfe abseits des Stundenbuches. Ein guter Chef weiß, wer unter seinen Gesellen dafür geeignet ist.
Welche Rolle spielt das Elternhaus?
Eine gewaltige, das muss einem Chef klar sein. Er stellt zwar einen Azubi ein, aber er holt sich auch das Elternhaus und dessen Vergangenheit, die jede Familie oder Beziehung mit sich bringt, ins Haus, im Guten und im Schlechten. Letzteres trifft leider vor allem auf Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen zu. Oft sind sie die Einzigen, die morgens aufstehen müssen. Dann ist das „Pünktlich-bei-der-Arbeit-erscheinen“ schon eine Herausforderung.
Was hilft bei Unpünktlichkeit?
Es kann unglaublich helfen, wenn beispielsweise ein Geselle den Azubi eine Weile von zu Hause abholt. So fühlt der sich ernst genommen. Dabei kann gequatscht werden und beide lernen sich besser kennen. Das erhöht die Chancen, den Auszubildenden als Mensch im Betrieb ankommen zu lassen und seine Probleme zu verstehen.
Gibt es beim Umgang zwischen Azubi und Betrieb einen Unterschied zwischen Stadt und Land?
Ja, auf jeden Fall. Eine Stadt bringt viel mit, vor allem auch für junge Menschen. Aber sie bringt auch Anonymität, oft schwächere Sozialgeflechte zwischen Haushalten. Wenn es bei einem Betrieb im Ländlichen Ärger gibt, ist die Chance recht hoch, dass sich Chef, Auszubildender oder dessen Eltern beispielsweise über die Freiwillige Feuerwehr oder andere Strukturen kennen. Der Weg zur Lösung eines Problems kann so auch außerhalb der Arbeit begleitet werden.
Was kann ein Betrieb tun, wenn er ein Azubi-Problem nicht selber lösen kann?
Dann haben sie das Problem eigentlich schon fast gelöst. Denn meiner Erfahrung nach ist es oft das Schwerste, sich einzugestehen, dass man als Betrieb Handlungsbedarf hat und es Änderungen braucht, um Auszubildenden zu helfen. Der Betrieb hat hier oft nämlich eine ganz andere Wahrnehmung, die Hilfe und Wandel blockiert, anstatt sie zu befördern. Ausbilden ist nicht einfach: Sie muss über die Zeit strukturiert werden. Das lernt man aber leider nicht an den Meisterschulen und auch der Ausbilderschein heißt da oft nichts. Es braucht aber Mumm, sich das als Meister einzugestehen.
Wo finden Betriebe externe Unterstützung?
Die Handwerkskammern leisten gute Arbeit mit ihren Ausbildungsbeauftragten. Zudem kann der Betrieb auch dabei unterstützen, dass die Lehrlinge ausbildungsbegleitende Hilfen und weitere Unterstützung der Agentur für Arbeit, wie die assistierte Ausbildung, in Anspruch zu nehmen. Hier sollte der Chef den ersten Kontakt herstellen und mithelfen, wie der weitere Lernort erreicht und wie das bei all den Pflichten des Arbeitsalltages zwischen Baustelle, Anfahrtszeiten, Berufsschule und überbetrieblicher Ausbildung noch eingebaut werden kann.
Häufen sich Erfolg und Misserfolg bei einzelnen Betrieben?
Ja, das lässt sich sagen. Ich beobachte immer wieder, dass leistungsstarke Azubis vermehrt bei erfolgreichen Ausbildungsunternehmen landen. Es kommen regelmäßig Landessieger ihrer Branche, zum Beispiel bei den Zimmerern, von den gleichen Betrieben. Und eine andere Firma fällt hingegen durch hohe Durchfallquoten ihrer Azubis auf. Das hat aber im Kern mit den Unternehmen und ihren Auswahlmethoden zu tun. Viele Betriebe haben bei der Auswahl nicht genügend Bewerberinnen und Bewerber und sie sind zudem nicht so erfolgreich dabei, die richtigen auszuwählen. Die Einstellung des richtigen Azubis ist der erste Schritt in einer erfolgreichen Ausbildung.
Was wäre dann die falsche Herangehensweise?
Im Kern gibt es immer eine falsche Erwartungshaltung dem Azubi gegenüber. Es reicht nicht zu sehen, dass ein Lehrling auf dem Dach gut mit anpacken kann, man muss erkennen, ob derjenige ausbildungsreif ist. Und der Auszubildende muss zum Betrieb passen. Es wird oft leider viel mehr erwartet, als die Jugendlichen leisten können.
Wie lässt sich Ausbildungsreife erkennen?
An Noten lässt sich das selten festmachen. Viel wichtiger ist es, dass ein Jugendlicher selbst für sich entscheiden kann, welchen Beruf er erlernen möchte. Es muss eine starke Motivation geben. Wenn er während eines Praktikums begeistert mithilft, gut, noch besser ist es, wenn er direkt auf Kritik reagiert und sich auch helfen und was beibringen lässt.
Und auch sonst: Er muss erkennen können, wo er Hilfe braucht und diese auch annehmen. Das alles muss aber von Persönlichkeitsmerkmalen begleitet werden, die es ihm ermöglichen, sich im sozialen Gefüge der Firma oder beim Kunden zu bewegen. Schulfächer oder auch Sprachen lassen sich aufholen.
Wie hängt das Ansehen eines Berufs mit der Durchfallquote zusammen?
Meine Vermutung ist, dass es etwa zwischen Ost und West einem Ansehensunterschied in der Peer-Group der Jugendlichen gibt. Dachdecker und Zimmerer sind im Westen in der Jugend angesehener als im Osten. Deshalb zieht es im Osten weniger leistungsstarke Jugendliche in die Lehren. Wir sehen solch ein Gefälle auch bei uns in Flensburg zwischen Zimmerern und anderen Berufen im Bauhauptgewerbe. Der Zimmererberuf ist sehr beliebt und die Lehrlinge sind erfolgreicher als Auszubildende aus anderen Gewerken.
Spielen im Osten auch die starken Umbrüche nach der Wende eine Rolle?
Ja, sicher. Der sich lange Zeit schleppend dahinziehende Strukturwandel in den neuen Bundesländern oder auch eine ganz andere Traditionsfrage müssen sicher bedacht werden. Es musste viel zentralisiert werden, um Klassengrößen zu erreichen. Das könnten Nachwehen sein. Hinzu kommt auch die Frage, wie der jeweilige Prüfungsausschuss unterwegs ist.
Also können die Prüfer bestehende Nachteile zementieren?
Ja, auch hier kann eine Teilschuld an überhöhten Durchfallquoten liegen. Ich will hier keine Vorwürfe machen, aber die Prüfungsausschüsse sind teils stark überaltert. Ihre Ansprache ist manchmal nicht mehr passend für heutigen Azubis und benachteiligt deshalb eventuell manche Jugendliche. Aber das ist je nach Besetzung des Ausschusses, dessen Mitglieder das allesamt ehrenamtlich machen, sehr unterschiedlich. Das ist auch eine Aufgabe der Innungen und Kammern. Die Verantwortlichen wissen eigentlich um ihren Handlungsbedarf und müssen Veränderungen anstoßen und begleiten.
Haben Sie einen Rat für Auszubildende, die sich im Betrieb ungehört fühlen?
Wendet euch an die Schule, das Ausbildungszentrum oder an die zuständige Handwerkskammer. Letztere wird euch garantiert helfen, denn ihr habt das Recht, eure Ausbildung gut zu absolvieren. Wenn ihr mitzieht und an euch arbeitet, dann findet sich ein Weg. Zur Not lässt sich auch der Betrieb wechseln, da draußen sucht man euch. Letzten Endes hoffe ich, dass jedes Scheitern später ein gutes Ende nimmt. Denn wir brauchen die jungen Menschen im Beruf – jeden einzelnen. Aber in erster Linie sind es Heranwachsende. Sie brauchen unser aller Hilfe, um ihr Potenzial entwickeln zu können, als Menschen und beruflich als Geselle oder sogar als Meister.
Sie interessieren sich das Thema Ausbildung? Dann lesen Sie unsere Story über eine Lehrbaustelle, auf der die Azubis alle Aufgaben in Eigenregie übernehmen.