Herausforderung Fachkräfte: Der Familienbetrieb Solle Bedachungen
29. Februar 2024
Seit 90 Jahren gibt es das Familienunternehmen Solle Bedachungen GmbH in Essen-Kettwig, am südwestlichen Rand des Ruhrgebiets. In dritter Generation führt Dachdeckermeister Robert Solle (55 Jahre) zusammen mit seiner Frau Antje Solle (56 Jahre) und Tochter Marleen Solle (26 Jahre) den Betrieb. Marleen arbeitet sich nach der vor einem Jahr bestandenen Meisterschule als Dachdeckermeisterin in alle betrieblichen Belange ein, mit der Perspektive, in einigen Jahren die Betriebsführung zu übernehmen. Dem Unternehmen mangelt es nicht an Aufträgen. Es ist der Nachwuchs, der der zukünftigen Betriebsleiterin Sorgen bereitet.
Die Umkehrung der Verhältnisse
Zurzeit sind rund acht Gesellen und vier Lehrlinge sowie ein 450 Euro Jobber mit auf den Baustellen unterwegs. Fast die Hälfte der Gesellen ist um die 50 Jahre alt. Es fehlt an jungem Fachpersonal. Das Familienunternehmen würde gerne Gesellen, Lehrlinge, Helfer, männlich, weiblich, divers einstellen. Doch es fehlen geeignete BewerberInnen.
Wie viele Handwerksbetriebe in Deutschland hat es die Solle Bedachungen GmbH, Mitglied der DEG Dach-Fassade-Holz eG, mit einer Umkehrung der gewohnten Verhältnisse zu tun. „Früher war man glücklich, eine Stelle zu bekommen. Heute sind wir glücklich, wenn wir einen Azubi finden. Es hat sich gedreht“, sagt Marleen Solle. Innerhalb der Dachdeckerbranche konkurrieren die Betriebe um qualifizierte Dachdecker. Branchenübergreifend konkurrieren alle um potenzielle Auszubildende. Heute sind es die Arbeitgeber, die sich bewerben und attraktiv sein müssen.
Die Fragen der jüngeren Generation
Grund ist nicht nur die niedrige Geburtenrate der letzten Jahrzehnte. Auch die lange Zeit vom Staat einseitig geförderte Akademisierung der Gesellschaft und das höhere gesellschaftliche Ansehen der „Studierten“ spielen eine Rolle. Wer sich dennoch für einen Ausbildungsberuf entscheidet, stellt sich dann Fragen wie: Kann ich in diesem Beruf bis 67 arbeiten? Gibt es flexible Arbeitszeitmodelle? Wo wird demnächst die 4-Tage-Woche eingeführt? Erfahre ich Wertschätzung? Ist das Betriebsklima gut?
Renteneinstiegsalter für Dachdecker zu hoch
Marleen Solle beobachtet im Betrieb, in der Branche und in ihrem Umfeld die Tendenz, dass der fachliche Nachwuchs sich schon in oder sofort nach der Lehre, spätestens nach ein paar Jahren im Beruf für einen Berufswechsel entscheidet. „Ein Großteil von denen, die mit mir die Dachdeckerlehre gemacht haben, hat sich nach drei Jahre Anlernung und Formung durch die Betriebe entschlossen, eine Umschulung zu machen. Die Anfang 20- oder 30-Jährigen gehen aus dem Handwerk raus. Das Renteneinstiegsalter von 67 ist viel zu hoch angesetzt. Sie sehen, dass sie das nicht schaffen. Beamte, etwa bei Feuerwehr oder Polizei, die können früher gehen, aber wir im Handwerk nicht.“
Die Sicht der älteren Generation
Das Familienunternehmen ist, wie viele andere Betriebe auch, mit einer schwierigen Situation konfrontiert. Die staatlichen Rahmenbedingungen in Hinblick auf die Rente sind nicht gut. Arbeitserleichterungen sowie Effizienzsteigerungen durch maschinelle Unterstützung und Digitalisierung oder das Akquirieren von Mitarbeitenden durch Werbung: All das kostet zunächst Zeit und Geld. Die Dringlichkeit und den Sinn dieser Investitionen bewerten Vater Solle und seine Tochter unterschiedlich. Das liegt auch an ihren unterschiedlichen Prägungen.
Die älteren Generationen, geburtenstärker und nicht in der digitalisierten Welt aufgewachsen, müssen sich an die neuen Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt gewöhnen. Sie müssen sich digitalisierte Arbeitsweisen aneignen und dazu noch auf die Bedürfnisse der Jüngeren einlassen.
Mehr Wertschätzung und Benefits geben
Marleen Solle beobachtet in ihrem Betrieb bei den Älteren: „Hier gilt noch: Was man auf dem Papier hat, hat man auf der Hand und so den Überblick. Mein Vater ist auch noch von der Zeit geprägt, wo man froh sein konnte, wenn man Arbeit fand, über den Winter durchbezahlt wurde und das Geld pünktlich aufs Konto kam.“Sie sieht das anders: „Ich möchte mehr Benefits geben. Das Betriebsklima, der gute Ton, die Wertschätzung geben den Ausschlag. Als es noch mehr Nachwuchs und Fachkräfte gab, war das nicht so. Dieser Wandel fällt den älteren Generationen, die früher niemand nach ihren Bedürfnissen und Befindlichkeiten gefragt hat, schwer. Wir Jüngeren sind einfühlsamer.“
Eine Frage der Einstellung
Die junge Dachdeckermeisterin formuliert aber auch Kritik an der Arbeitseinstellung der Jüngeren. Sie gibt ein Beispiel: „Es gibt InteressentInnen, die Mitte 20 sind und keinen Führerschein haben. Da liegt es nicht am Geld, sondern daran, dass sie keine Lust auf die Anstrengung haben. Die besseren beruflichen Chancen reichen ihnen offenbar nicht als Ansporn. Es ist bequemer, mit dem E-Scooter zu fahren, da brauchen sie weder Führerschein noch einen Parkplatz.“
Kompromisse und Lösungen finden
In einem Betrieb mit vielen älteren Mitarbeitenden und zu wenig Nachwuchs sowie einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem die Kosten einer Dacheindeckung schneller wachsen als das Einkommen oder die Vermögen der Kundschaft, sieht die junge Dachdeckermeisterin die Notwendigkeit von Kompromissen. „Wenn wir höhere Löhne zahlen, steigen die Kosten unserer Leistungen. Mein Vater sagt: ‘Das wird für die Kundschaft zu teuer.‘ Ich will mit ihm zusammen Lösungen finden und zufriedene Mitarbeiter haben. In der Digitalisierung sind wir auf einem guten Weg, es geht Richtung digitales Aufmaß. Wir müssen das nach und nach angehen, denn noch bin ich voll auf der Baustelle tätig und ich brauche erst mehr Einarbeitung im Büro.“
4-Tage-Woche eine zu große Herausforderung
Eine 4-Tage-Woche würde den Betrieb vor große Herausforderungen stellen, das sieht nicht nur ihr Vater Robert so: „Im Winter haben wir Probleme, überhaupt auf acht Stunden am Tag zu kommen“, gibt Marleen Solle zu bedenken. „Im Sommer arbeiten wir sowieso schon länger und können das nicht ausweiten, um den freien Freitag reinzuholen. Die 4-Tage-Woche würde daher auf eine Arbeitszeitverkürzung hinauslaufen. Es gibt Betriebe, die das machen. Aber unsere Auftragslage ist zu hoch, wir kriegen da unsere Arbeit nicht gemacht.“
Die beste Werbung für Betrieb und den Beruf
Um mehr guten Nachwuchs zu finden, würde Marleen Solle gerne zusätzlich zur Werbung über Instagram, wo sie einen Kanal für den Betrieb und unter dem Namen Roofing Girlz einen zweiten, sehr erfolgreichen mit ihrer Freundin und Dachdeckermeister Carolin Martin führt, ein Imagevideo drehen. Doch Vater Robert ist noch nicht überzeugt. So bleibt es vorerst bei Besuchen und Werbung an Schulen und am Berufskolleg Niederberg in Heiligenhaus. Zudem ist Marleen Solle als Repräsentantin ihres Berufes bei Presse und Werbekampagnen der Industrie gefragt. Für die Bildzeitung und auch den Dämmstoffhersteller Isover war sie schon die Model-Dachdeckerin. Große Plakate mit ihrem Konterfei waren auf der Messe Dach+Holz 2022 in Köln zu sehen. Isover hatte Marleen Solle auch zusammen mit ihrem Vater Robert für ihre „Helden der Dämmung“ Kampagne abgelichtet. Und der WDR hat mit dem Betrieb eine längere TV-Doku zum Thema Fachkräfte gedreht.
Freude an der Arbeit – Stolz auf das Geschaffene
Für die junge Dachdeckermeisterin sind die wirklich guten Gründe für einen Berufsweg im Dachdeckerhandwerk die Freude an der handwerklichen Arbeit, der Stolz auf das Geschaffene und der Spaß bei der Teamarbeit. „Die, die im Büro arbeiten, werden nicht auf ihre Arbeit zurückblicken und sich sagen: ‚Also dieses Angebot, das ich damals geschrieben habe, das war toll und hat total viel Spaß gemacht!‘ Ich als Dachdeckerin kann mit der Familie, mit Freunden und Freundinnen durch die Stadt gehen und sagen: ‚Da habe ich mitgearbeitet. Das haben wir gemacht!‘ Man unterschätzt oft, wieviel das einem gibt.“
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