
Johanna Rieger lebt als Inseldachdeckerin auf Wangerooge
24. Oktober 2023
Wer im ostfriesischen Küstenort Harlesiel die Fähre nutzt, erreicht nach etwa einer dreiviertel Stunde die Nordsee-Insel Wangerooge. Feriengäste kommen und gehen zu allen Jahreszeiten. Manche entschließen sich für immer oder längere Zeit zu bleiben. So plant es auch die junge Dachdeckermeisterin Johanna Rieger, die als „Inseldachdeckerin“ auf ihrem „Sandhaufen mit Leuchtturm“ lebt und arbeitet. „Mit meinen Eltern war ich früher oft hier. Erstmals als ich fünf Jahre alt war und dann regelmäßig in den Ferien.“ Vielleicht hat sie sich damals schon ein bisschen in diese Insel verliebt.
Künstlerisches Talent und Orientierungsstudium
Im schön gelegenen St. Andreasberg im Oberharz aufgewachsen, denkt Johanna Rieger während ihres letzten Schuljahres keineswegs daran, eine handwerkliche Ausbildung zu absolvieren. Schon als Kind zeigt sich ihr künstlerisches Talent. Sie ist geschickt, kreativ, sehr musikalisch und vielseitig interessiert. „Ich habe verschiedene Hobbys und kann mich euphorisch für neue Ideen begeistern“, erzählt Johanna Rieger. Mediendesign, Ausbildung für technisches Produktdesign und der Umgang mit CAD-Zeichenprogrammen scheinen ihr nach dem Abitur eine mögliche Lösung für den Berufseinstieg. Doch so ganz deckt sich das noch nicht mit ihren Vorstellungen und deshalb startet sie ein Orientierungsstudium in Braunschweig mit verschiedenen Fächern.

Ein Marathon bringt die Berufsentscheidung
Ende April 2019 stellt der Hamburg-Marathon die Weichen für ihr Berufsleben. Der Landesinnungsverband des Dachdeckerhandwerks Niedersachsen-Bremen (LIV) nimmt zwecks Nachwuchswerbung an diesem öffentlichkeitswirksamen Lauf teil. Johannas Mutter ist als Projektleiterin mit der Organisation für das LIV-Team befasst und bittet ihre Tochter, die auch gut fotografieren kann, einige Fotos zu machen. Johanna Rieger: „Durch die Arbeit meiner Eltern war ich eigentlich schon immer mit dem Dachdeckerhandwerk konfrontiert.“ Auch ihr Vater ist Dachdeckermeister und unterrichtete am Ausbildungszentrum in St. Andreasberg. Wie der Zufall es will, sitzt sie am Vorabend zum Marathon mit dem Jugendbeauftragten zusammen und Heiner Lüpkemann überzeugt Johanna, dass sie auch als Dachdeckerin sehr kreativ sein kann. Gesagt, getan – er bietet ihr ein Betriebspraktikum an und schon war es um Johanna geschehen. Nach einem zweiten Praktikum absolviert sie eine zweijährige Lehre in einem Dachdeckerbetrieb in ihrer Heimatstadt.

Meisterschule direkt nach der Gesellenprüfung
Im Anschluss an die bestandene Gesellenprüfung belegt sie direkt den Meisterkurs im Ausbildungszentrum St. Andreasberg – nur zehn Minuten von zuhause entfernt – und wird Dachdeckermeisterin. Zur Frage, ob der Zeitpunkt nicht zu früh gewesen sei, entgegnet Johanna: „Auch wenn die allgemeine Empfehlung lautet, zunächst einige Jahre Praxis als Dachdeckergesellin zu sammeln, habe ich mich bewusst dafür entschieden, zuerst die Meisterprüfung abzuschließen.“ Zudem hätte sie als Meisterin bereits eine Menge Wissen in Theorie und Praxis und könne das nunmehr in der praktischen Umsetzung weiter vertiefen. „Das kommt sowohl mir als auch dem Betrieb und den Kunden zugute“, erläutert die 25-Jährige.

Der Weg führt nach Norden
Aufgewachsen im Harz, Schulzeit im Harz, Ausbildung und Meisterschule im Harz. Es ist an der Zeit, neue Wege zu gehen, denkt Johanna Rieger und erinnerte sich an den letzten Wangerooge-Besuch. Dort war ihr das Firmenschild eines Dachdeckerbetriebes aufgefallen. „Auf ‚meiner‘ Nordseeinsel leben und arbeiten, das wär’s doch“, denkt sie und schreibt eine Initiativbewerbung an den Dachdeckerbetrieb Gebrüder Stumpf GmbH auf Wangerooge mit Hauptsitz in Wilhelmshaven. Dort freut sich Marvin Stumpf und sagt ihr am Telefon: „Wir sollten uns persönlich kennenlernen.“ Sehr schnell wird man sich einig.
Der Großvater hatte den Betrieb vor rund 60 Jahren auf der Insel gegründet. In dritter Generation ist es der einzige dort ansässige Dachdeckerbetrieb, die Brüder Marvin und Dachdeckermeister Reent Stumpf haben das Geschäft übernommen. Durch deren gute Kontakte findet Johanna Rieger schnell eine Wohnung.

„Als Frau musst du dich behaupten“
„Im Harz ging es bergauf und bergab – aber mit dem Auto“, erzählt Johanna Rieger. „Hier auf der autofreien Insel ist bei Wind und Wetter das Fahrrad mit Anhänger dein Haupttransportmittel. Doch die Wege sind kurz und E-Bikes stehen zur Verfügung.“ Die Tagesplanung beginnt um acht Uhr mit der Teambesprechung. Ein überwiegend junges Team mit sieben Mitarbeitern erledigt fachgerecht, was auf der Insel an Dach-, Fassaden-, Entwässerungs- und Photovoltaikarbeiten anfällt. Johanna Rieger schwärmt: „Die Kollegen sind super. Ich werde als Frau im Handwerk und als Meisterin voll akzeptiert.“
Allerdings passiert es auf der Baustelle manchmal, dass sie von Kunden als Lehrling angesprochen wird oder lieber erstmal Kaffee kochen soll. „Das ist sicher nicht böse gemeint, aber vollkommen unpassend. Es klärt sich jedoch schnell auf, wenn die Leute erfahren, wer ich bin und alles ist gut“, sagt Johanna Rieger.

100 Prozent Inseldachdeckerin
Sobald ihr Chef und ihre Kollegen am Freitagvormittag nach Hause aufs Festland zurückkehren, ist sie ganz alleine zuständig, wenn zum Beispiel wieder ein rauer Wind über die Insel fegt und für Notfälle sorgt. „Es kommt allerdings auch mal ein Anruf, ob ich bitte die Katze vom Dach holen kann, weil man sich nicht traut. Wer kann dazu schon nein sagen“, schmunzelt Johanna Rieger. Ganz besonders gefällt ihr der direkte Kundenkontakt. „Hier stehen viele Altbauten. Da gibt es dankbares Feedback, wenn das alte Dach wieder dicht ist oder die Innenwand trocken bleibt.“ Einmalig empfindet sie auch die wunderbare Seeluft und den weiten Blick hinaus aufs Meer bei der Arbeit. Bei guter Sicht erscheint die Hochseeinsel Helgoland am Horizont.
„Ständiger Begleiter ist die persönliche Schutzausrüstung inklusive Sonnenschutz“, sagt sie und ergänzt: „Du musst dich wegen der Stürme auf der Insel genau mit der Windsogsicherung auskennen. Hier ist meist jeder zweite Ziegel geklammert, was Arbeiten manchmal aufwändiger macht.“ Wenn ihr Chef nicht auf der Insel ist, koordiniert sie die Arbeit vor Ort, teilt die Teams ein und überwacht deren Arbeiten, ist eben zuständig für alle anfallenden Aufgaben vor Ort.

Mit den Touristen auskommen
Die Winterzeit ist eher ruhig, das bedeutet für die Handwerker Hochsaison. Im Frühjahr geht die Saison mit den Touristen los, mit Ruhezeiten für Johanna Rieger auf der Insel. Da gilt es, genau zu überlegen, was „geräuschlos“ vorbereitet und ausgeführt werden kann. Im Hochsommer liegen überwiegend Ausbesserungen und Kleinreparaturen an und natürlich Notfälle. Es kommt schon öfter vor, dass die Touristen beim „Über-die Insel-schlendern“ den Handwerkern die Arbeitswege versperren. „Damit lernt man aber umzugehen“, lacht Johanna.
Überhaupt sei das Leben auf der kleinen Insel im niedersächsischen Wattenmeer anders als auf dem Festland. „Die Leute sind hier aufeinander angewiesen. Es herrscht große Hilfsbereitschaft. Und immer vor Ort sein, helfen können, gebraucht werden, das ist toll für mich“, sagt Johanna. Auf die Menschen zugehen, sich einbringen um etwas aufzubauen, das praktiziert sie nicht nur in ihrem Job, sondern auch mit anderen Handwerksfrauen auf Instagram. Auch innerhalb der Inselgemeinde Wangerooge geht die Harzerin diesen Weg. So ist Johanna in der Line-Dance-Gruppe aktiv, kickt bei der Fußballmannschaft „Die Tussis“, tritt mit der Trommel-Comedy-Group die Wangoo Diptams öffentlich auf und geht ab und an mal rüber ins Restaurant Brotway. Und was gefällt ihr sonst an der Insel? Johanna Rieger blickt hier gerne in den Sternenhimmel. „Und bei Sturm bin ich gerne am Strand und schaue mir die Wellen an.“

„Dachdecken ist genial“
Die Anfangseuphorie bestimmt nach wie vor ihren Berufsweg. Für sie ist es faszinierend, wie ein Dach gedeckt wird und warum es funktioniert. „Dachdecken ist genial wegen der logischen Konstruktionen und es ist echte Handwerkskunst. Jedes Dach ist anders, man steht oft vor neuen Herausforderungen und nicht vorhersehbaren Aufgaben, die zu erfüllen sind. Nach und nach bekomme ich einen immer besseren Blick dafür“, berichtet Johanna Rieger. „Ich bin jetzt über ein Jahr hier und liebe meine Arbeit. Jeden Tag lerne ich dazu und mein Beruf ist krisenfest.“
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