Vom Gesellen zum Meister im Eiltempo: Macht das Sinn?
26. Januar 2023
Lehrling, Geselle, Meister: Auch im Dachhandwerk oder bei den Zimmerern sind die Titel weit mehr als nur Tradition. Sie stehen für Leistungsversprechen und wecken Erwartungen. Und früher war klar: Der frischgebackene Geselle muss über Jahre praktische Berufserfahrung sammeln, bevor er oder sie selbst die Meisterschule absolviert.
Doch die jüngere Vergangenheit brachte eine Entwicklung hervor, die bis heute anhält. Bereits kurz nach Erhalt des Gesellenbriefes drückt der „Eben-noch-Lehrling“ erneut die Schulbank und darf sich nur Monate später Meister nennen. DACH\LIVE sprach mit drei Betriebschefs aus dem Dachdecker- und Zimmererhandwerk, um zu erfahren, wie sie diesen Trend einschätzen.
Fehlende Leistung als Erfolgshemmnis
Tobias Setz, Dachdeckermeister bei der Dachdeckerei Setz & Leuwer in Königswinter, sieht in der erhofften Beschleunigungsspur für die Karriere ein potenzielles Problem – für Betriebe sowie gleichermaßen für die Jungmeister. „Ich will hier niemandem etwas wegnehmen oder schlecht machen“, erklärt Setz. „Aber in einen Meister werden im Austausch gegen höhere Entlohnung ganz andere Erwartungen gesetzt – auf der Baustelle sowie im Betrieb.“
Wenn nach einigen Monaten aber ersichtlich wird, dass von dem jungen Meister nicht geliefert wird, was seine Qualifizierung verspricht, ist das ein echtes Problem. Der Betrieb verliert womöglich Geld aufgrund von Fehlkalkulationen, die Ausbildung der Lehrlinge gerät vielleicht ins Stocken oder man büßt sogar Aufträge ein. „Da kann auf beiden Seiten Enttäuschung ins Haus stehen“, mahnt Setz. Der heute 31-jährige Co-Chef des Mitgliedsbetriebes der DEG Alles für das Dach eG erlangte seinen Meistertitel selbst im Schnelldurchgang eines Trialen Studiums Handwerksmanagement. Dieses beinhaltet in nur viereinhalb Jahren den Gesellenbereich, einen Bachelorabschluss und eben die Meisterschule. Doch obwohl er diesen Weg genommen hat, sieht er die Entwicklung kritisch.
Melanie Bernhardt hat die nötige Erfahrung gefehlt
Ähnlich denkt Dachdeckermeisterin Melanie Bernhardt aus Frankfurt. Sie führt die 1896 gegründete Bernhardt Bedachung- Gerüstbau GmbH gemeinsam mit ihrem Bruder Oliver in vierter Generation. Die 46-Jährige kann den Wunsch des Nachwuchses, beruflich schnell voranzukommen, ebenfalls gut verstehen, versichert sie. Doch wenn sie in ihre eigene Vergangenheit blickt, überkommen auch sie Zweifel: „Für mich wäre die alleinige Verantwortung eines Meisters zu früh gekommen.“
Als sie gut drei Jahre nach ihrer Gesellenprüfung den Meisterbrief in der Hand hielt, sei sie heilfroh gewesen, dass ihr Vater als erfahrener Firmenchef ihr noch zur Seite stand. „Ich war knapp 22 Jahre alt, mir hätte die nötige Erfahrung gefehlt, um außerhalb des elterlichen Betriebes als vollwertige Meisterin zu bestehen“, räumt sie unumwunden ein.
Familienbetrieb als schonendes Umfeld
Sie sieht hierin generell einen wichtigen Unterschied: „Steige ich als Jungmeister in den elterlichen Betrieb ein, erhalte ich ganz andere Unterstützung.“ Wenn indes selber gegründet wird oder der Einstieg als angestellter Meister geplant ist, sollte man sich seiner Fähigkeiten fachlich, kaufmännisch und im Kundenkontakt sehr sicher sein.
Als Inbegriff solch eines Jung-Handwerkers auf der Überholspur könnte der heute 26-jährige Zimmerermeister Aaron Wilhelmi aus Haina-Löhlbach gelten: Verkürzte Lehre, Meister mit 19 Jahren und zu der Zeit auch Mitglied der Zimmerer-Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren übernahm er bereits die Firmenleitung der Günter Wilhelmi GmbH, Mitgliedsbetrieb der Dachdecker-Einkauf Süd eG.
Fähigkeiten und Persönlichkeit entscheiden
„Ich würde es nicht am Alter festmachen“, sagt Wilhelmi. Es komme schlicht auf die Fähigkeiten und die Persönlichkeit des jeweiligen Meisters an. Er zieht einen Vergleich zum Sport: „Hier sieht man ja auch immer öfter Bestleistungen von sehr jungen Athleten.“ Es seien aber eben Einzelne, die hervorstechen“, betont Wilhelmi. „Viele andere junge Menschen überschätzen sich hingegen maßlos. Ich kenne Altgesellen, die stecken etliche Jungmeister problemlos in die Tasche.“
Dabei gehe es laut Wilhelmi primär um didaktische und persönliche Befähigung, weniger ums Fachliche. „Verantwortung tragen, Mitarbeiter führen“, beginnt der Zimmerermeister aufzuzählen. „Fehler analysieren und sie auch eingestehen. Das alles und noch mehr muss eine Führungskraft leisten.“
Das Alter bringt ein anderes Standing
Melanie Bernhardt gewichtet das Alter hingegen stärker als Wilhelmi: „Ist man älter, hat man einfach ein anderes Standing“, ist sie überzeugt. Vor allem bei Konfrontationen mit schwierigen Kunden, die vielleicht sogar älteren Semesters sind, komme dies zum Tragen. „Da fehlen bei jungen Menschen meist Selbstvertrauen und Erfahrungsschatz.“ Die Meisterschule lehre zwar viel, aber letztendlich sei auch im Handwerk die Zeit der beste Lehrmeister. Vor allem beim Kundenumgang und der finanziell-organisatorischen Arbeit im Büro sei Erfahrung kaum zu ersetzen.
Der Betrieb als Schutzraum für den Gesellen
Tobias Setz sieht das ähnlich und ist auch deshalb überzeugt, dass der Betrieb mehr als nur ein Arbeitgeber für die Gesellen sein kann: „Er bietet Schutz, um weiterzulernen.“ Er empfiehlt deshalb, sich in Geduld zu üben: „Einige Jahre als Geselle schaden nicht, sie bescheren fachliche Kenntnisse und helfen, Selbstvertrauen aufzubauen.“ Der Schritt zum Meister könne dann immer noch erfolgen.
Wieder verpflichtende Berufspraxis vor Meisterschule?
Melanie Bernhardt ist deshalb nicht komplett abgeneigt, wenn es um die Wiedereinführung einer verpflichtenden Berufspraxis als Voraussetzung für die Meisterschule geht. Fünf Jahre Berufspraxis wurde ganz früher gefordert, später waren es nur noch drei Jahre und seit der Novellierung der Handwerksordnung im Jahr 1998 kann sich jeder nach bestandener Gesellenprüfung auf einer Meisterschule anmelden. „Vielleicht nicht so schlecht, so etwas wieder einzuführen“, überlegt sie. Doch perfekt würde sie die Lösung auch nicht nennen. „Es ist mehr eine Behelfsmaßnahme.“
Sich des Meistertitels würdig erweisen
Aaron Wilhelmi richtet den Fokus ausdrücklich auf die Chancen für den Einzelnen, weshalb er verpflichtende Vorgaben, wie Altersgrenzen oder Mindestberufsjahre, ablehne. Er sieht einen Grund für die Inflation der Meistertitel unter Jüngeren in zu geringen fachlichen und schulischen Hürden: „Die Prüfung müsste strenger sein“, fordert Wilhelmi. „Da kommt quasi jede Pappnase im zweiten oder spätestens im dritten Anlauf durch.“
Als Übergangslösung könne er sich auch Aufnahmeprüfungen vorstellen, die die persönliche und fachliche Eignung des Gesellen vor Eintritt in den Meisterkurs auf die Probe stellen. Doch letztendlich schwant ihm: „ Es wird wahrscheinlich keine Lösung auf Ebene der Ausbildungszentren geben.“ Deshalb sollte der einzelne Dachdecker oder Zimmerer Verantwortung übernehmen: „Jeder muss sich an die eigene Nase packen und beweisen, dass er des Meistertitels auch in der Praxis würdig ist.“
Jungmeister = Assistenzarzt?
Bernhardt zieht einen Vergleich zu Medizinern, die frisch von der Universität kommen. „Im Handwerk haben wir keine Assistenzärzte, junge Meister bekommen nicht vom System her Zeit, um ihre neue Rolle kennenzulernen.“ Deshalb sei ein Erwartungsmanagement zwischen Jungmeister und Betrieb so wichtig, damit Enttäuschungen und Kosten vermieden werden. Dies könne im Einzelfall helfen, die möglichen Schwierigkeiten im ersten Jahr nach der Meisterschule abzumildern.
Gesellen helfen, ihren Weg zu gehen
„Wir müssen hier dranbleiben, um den Gesellen frühzeitig zu helfen, ihren Weg zu gehen. Denn wir können es uns nicht leisten, vielversprechenden Nachwuchs zu verlieren“, verlangt Tobias Setz Engagement von allen Verantwortlichen. Denn der Stress, unter den sich mancher Junggeselle mit der schnellen Anmeldung zur Meisterschule setze, sei nicht immer nötig: „Als Dachdecker gibt es auch ohne Meistertitel sehr gute Job- und Entwicklungschancen“, wirft er als Variante ein.
Wichtig sei, dass jeder Geselle den Karriereweg findet, der zu seinen persönlichen Fähigkeiten passt. „Denn wir brauchen Top-Handwerker auf allen Ebenen der Betriebe“, meint Seitz. Da reicht das Spektrum vom Allrounder über den Spezialisten für bestimmte Bereiche bis zum Bauleiter oder eben Meister. Die Branche wisse dies und bezahle auch entsprechend. Sodass der Druck, unbedingt sofort den Meisterbrief haben zu müssen, sich Tobias Setz nicht vollständig erschließt.
Sie interessieren sich für die Ausbildung des Handwerksnachwuchses? Dann lesen Sie unser Interview mit Sven Mohr. Der Bundesvorsitzende des Bundesverbandes der Lehrkräfte für Berufsbildung gibt wertvolle Tipps, für den richtigen Umgang mit dem Azubi.